AHHHHHHHH! Die Ausstellung von Alicia Framis beginnt mit einem Schrei! Das erste menschliche Lebenszeichen eines Neugeborenen, dass aus dem Schutz des Mutterleibes in die Welt hinausgeworfen wird. Nun wird es sich zeigen, wie der neue Erdenbürger in Brave New World zurechtkommen wird… Überwachung, Diskriminierung, Zensur sind einige der Themen, die Alicia Framis beschäftigen.
Im ersten Raum der Kunsthalle aus der Werkgruppe Forbidden Rooms verführt die Installation Screaming Room (2012) den Besucher seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. In einem isolierten Raum wird dessen Schrei aufgenommen und in ein 3D Objekt transformiert mithilfe eines 3D Druckers. Die Form des Objektes hängt ab von der Länge des Schreis, der Tonhöhe usw. Das fertige Objekt kann mitgenommen werden.
Im nächsten Raum eine lose Bestuhlung, die sofort die Frage aufwirft: „Was zum Teufel gibt es hier zu sehen!?” An den Wänden hängen 35 SW-Fotos und auf den Stühlen liegen Programmhefte. Man beobachtet die anderen Besucher, die schon Platz genommen haben und sich rege unterhalten. Cinema Solo (1996) ist eine Dokumentation von drei Monaten als die Künstlerin alleine in einem Apartment in einem verrufenen Stadtviertel lebte und aus Angst sich eine männliche Schaufensterpuppe besorgte. Pierre, so nannte sie ihren Beschützer, sollte ungewollte Gäste fernhalten…verständlich, wenn Alicia Framis erzählt: „Police didn’t enter our neighbourhood. I saw things I couldn’t explain and junkies used my door as a toilet.” (Badida 2013, S. 210).
Im fünften Raum der Ausstellung steht eine große, begehbare Transportkiste mit 200 Büchern in schwarzen Umschlägen. Room for forbidden books (2014) versammelt verbotene Publikationen aus verschiedenen Ländern. Man findet Titel wie Das Kommunistische Manifest von Marx oder Hitlers Mein Kampf. Leider trauen sich die meisten Besucher den Raum nicht zu betreten, weil immer noch eine gewisse Angst mitschwingt – dem Beuys sei Dank – das Kunstwerk zu verhunzen.
Auf der anderen Seite im selben Raum steht eine einfache Holzhütte mit Bänken, einer Leinwand, Regenjacken und Schutzhelmen. Das Projekt Century 22 Real Estate sucht nach neuen Wohnformen für die entstandenen neuen Lebensgemeinschaften, die dem traditionellen Familienbild nicht entsprechen. Zum Beispiel das Haus einer alleinerziehenden Mutter mit einem Liebhaber, das Transgenderhaus oder eine Hundehütte mit Mensch. Diese Diskussion lässt nicht nach und unweigerlich muss man an die jetzige Verfilmung von Happy Family (David Safier) denken.
Im letzten Raum auf einem Podest steht eine ausgestopfte Taube mit einer am Körper befestigten kleinen Kamera. Wenn man den Blick schweifen lässt, findet man oben an der Decke die zweite Taube. Im ersten Weltkrieg wurden häufig Brieftauben zur Luftaufklärung und Informationsübermittlung eingesetzt. Im White Cube kommt die Assoziation zum herkömmlichen Symbol der Taube für Demut, Mäßigung, Eintracht und Frieden zum Tragen. Doch demgegenüber steht das Gefühl des Verlassenseins in der Welt und die Angst dies nicht bewältigen zu können wie es schon Prince in seinem Song When Doves Cry (1984) ausdrückte.
Kurz vor dem Aufbrechen sollte man den Projektraum besichtigen. Hier können Besucher ihre Wünsche auf Papier mit einem Stift mit unsichtbarer Tinte hinterlassen, die in ein Loch in der Wand gesteckt werden. Der Versuch die Wünsche anderer Besucher zu erfahren, bleibt dadurch erfolglos… damit beim Thema Datenschutz, Facebook und Co. … Wishing Wall (Cities) entstand 1998 in Serre di Rapolano im Rahmen einer Ausstellung und wurde seitdem an anderen Orten realisiert. Diese „Klagemauer/הכותל המערבי“ verschafft ein Gefühl der Hoffnung in der Zweiten Moderne (Ulrich Beck).
Anna Levandovska
Literatur:
Badida, Montse (Hrsg.): Framis in Progress. Kat. Ausst. Amsterdam 2013.
Breddels, Lilet (Hrsg.): Alicia Framis works 1995-2003. New York 2003.
Urban, Regina: Art. „Erst kommt die Geburtstagsfeier, dann wird saniert”. In: Nürnberger Stadtanzeiger (2017), S. 35.
Ausstellung Alicia Framis „fearless”
14. September bis 12. November 2017
Kunsthalle Nürnberg