Eine nahezu ausgestorbene Spezies

Der letzte Zeitungsleser

Bild: Verlag Galiani Berlin

Wer darauf achtet, findet noch das ein oder andere Exemplar einer nahezu ausgestorbenen Spezies. Erst kürzlich fiel mir in einem Café – modern eingerichtet mit eckigen Sofas und diesen (lebens-)weisen Sprüchen an den Wänden – eine ältere Dame auf, die Zeitung las. Der Tisch war vollständig bedeckt von den überdimensionalen, gräulichen Blättern dieser Zeitung. Nebenbei nippte sie an einer Tasse Kaffee. Eine waschechte Zeitungsleserin. Was für eine Seltenheit, geradezu museal!

Und nein, werte Leser, dieser Satz enthält keine Ironie (oder nur einen kleinen Fingerhut voll davon). „Werte Leser“, das klingt irgendwie altmodisch, nach Zeiten, als Zeitungen noch von einem Butler gebügelt wurden, als die Artikel in der geschwungenen Fraktur gesetzt waren und gebildete Männer mit Zylindern durch die Straßen flanierten. Längst vergangene Zeiten. Aber beerdigt ist die Zeitung keineswegs. „Der letzte Zeitungsleser“ lebt, ihm hat Michael Angele ein Denkmal gesetzt. Als stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“ und bekennender Zeitungssüchtiger scheint er prädestiniert dafür zu sein. Die Idee an sich ist genial und einfach. Wie viele Bücher und Artikel wurden schon über den Tod der Zeitung geschrieben? Zeitungen haben aber offensichtlich mehr Leben als Menschen und Katzen zusammen, denn nach all den Todesanzeigen geht es ihnen erstaunlich gut. Nicht so gut wie damals, es geht abwärts, aber tot sind sie noch nicht. Nun wagt ein Autor also den Seitenwechsel.

Für Angele ist der ideale Zeitungsleser Thomas Bernhard. Ein Mann, der auf der Suche nach der „Neuen Zürcher Zeitung“ schon durch ganz Oberösterreich gefahren ist. Ein Mann, der im Café sitzend Zeitung liest. Tatsächlich, wenn man bewusst durch die Stadt geht, stellt man fest: Viele Menschen lesen. Nur keine Zeitung, sondern eine Nachricht auf dem Smartphone. Die Zeitung ist Vergangenheit, beinahe.

Das Schöne am Zeitunglesen

Angeles essayistischer Text kommt gerade noch rechtzeitig, um die letzten Zeitungsleser zu fesseln. Ein wenig nostalgisch, ein wenig pragmatisch ist der Text geschrieben. Doch: Immer positiv. Wie viele Nerven haben Zeitungen schon gekostet? Es ist doch eine Kunst, eine Zeitung im Zug umzublättern, ohne dabei dem Nachbarn einen Kinnhaken zu verpassen und halbwegs elegant auf der nächsten, verbeulten Seite weiterzulesen. Angeles jedoch betont die Vorzüge des Zeitunglesens und des Zeitungslesers. Auf Beerdigungen werden die weniger ansprechenden Seiten einer toten Person üblicherweise auch eher verschwiegen. Aber genug von Tod und Beerdigung, Angele schwelgt in positiven Erinnerungen und findet im Laufe des Buches mehr über Thomas Bernhard als Zeitungsleser heraus. Dieses Thema ist übrigens noch nicht erforscht, liebe Wissenschaftler.

Das Schöne am Zeitunglesen? Hier nur eine Antwort, die Angeles in dem Buch gibt: „Was können zwei Menschen, die schon lange zusammen sind, sagen wir Eheleute, Schöneres machen, als in ein Café zu gehen, um die Zeitung zu lesen und sich ein wenig daraus vorzulesen?“ Und was sagte Thomas Bernhard wohl, als eine Journalistin ihn fragte, ob er für seine Bücher Informationen aus Zeitungen verwerte? Er sang ein wahres Loblied auf die Zeitung: „Von einem seitenlangen Vortrag von Herrn Popper habe ich gar nichts. Aber ich habe sehr viel davon, wenn da steht, die Bäuerin Hintermeier in der Steiermark ist also amoklaufend aus dem Haus, hat vier Kinder umgebracht und das fünfte ertränkt. Das ist doch viel gewaltiger.“

Angeles‘ Buch ist nichts zum Aufregen (im Gegensatz zu Zeitungen), es liest sich flüssig und gut. Selbst wenn die Spezies der Zeitungsleser eines Tages ausstirbt, gibt es nun ein kleines Denkmal, geschrieben von einem Zeitzeugen. Man kann es übrigens nicht nur gedruckt, sondern auch digital lesen. So schnell geht dieses Denkmal also nicht verloren.

Patricia Achter

Michael Angele: Der letzte Zeitugsleser
Verlag Galiani – Berlin
ISBN: 978-3-86971-128-7
Erschienen am: 11. August 2016
160 Seiten
16 Euro

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