Regisseur Ariel Schulman rechnet in Nerve mit der Generation Selfie ab. Für ein paar Minuten Ruhm setzen seine jugendlichen Protagonisten alles aufs Spiel. Ein interessantes Gedankenspiel – das schon lange von der Realität überholt wurde.
Pokemon Go war gestern, die neue Appsensation heißt Nerve. Auf der interaktiven Plattform können Nutzer Mutproben bestehen – und dafür bares Geld kassieren. Als die Schülerin Sydney (Emily Meade) mit einer spektakulären Nerve-Challenge zum Stadtgespräch wird, meldet sich auch ihre beste Freundin Vee (Emma Roberts) in dem Netzwerk an. Ihre ersten Aufgaben sind noch einfach, doch je höher sie in der Beliebtheit steigt, desto härter werden die Mutproben. Als sie in Lebensgefahr gerät, versucht Vee zusammen mit Mitspieler Ian (Dave Franco) einen Weg aus der grausamen Welt von Nerve zu finden. Doch es ist zu spät, einfach auszusteigen. Die beiden müssen weiterspielen – bis sie sich im großen Finale als Gegner gegenüber stehen.
Massenhaft psychologisches Gepäck
Horror-Regisseur Ariel Schulman gelingt es mit treibender Musik und düsteren Farben schnell eine ungemütliche Atmosphäre aufzubauen. Wie schon in seinen Paranormal Activity-Filmen findet er auch hier eine gute Entschuldigung auf Handkameras zurückzugreifen: Die Nerve-Spieler müssen sich bei ihren halsbrecherischen Aktionen schließlich selbst filmen. Noch stärker als in den Hunger Games-Filmen findet sich der Zuschauer damit direkt in der Rolle der voyeuristischen Netzwerkgemeinschaft wieder, die die Spieler zu immer neuen Mutproben treibt.
Hauptdarstellerin Emma Roberts trägt mit ihrem nuancierten Spiel viel zum düsteren Realismus des Films bei. Ihre emotionale Reise vom Mauerblümchen zum halsbrecherischen Internetstar ist in jeder Situation nachvollziehbar. Nebenbei gibt ihr das Drehbuch einiges an psychologischem Gepäck mit. In dem 96 Minuten-Film muss Vee nicht nur ihre Beziehung zu neuen und alten Freunden neu definieren und weitreichende Entscheidungen für ihre Zukunft treffen, sondern ganz nebenbei auch noch ihren toten Bruder kompensieren. „Bald werde ich älter sein als mein großer Bruder“, bemerkt sie in einer Szene – es sei denn die Spielmacher machen ihr einen Strich durch die Rechnung.
Vom Spieler zum Gefangenen
Leider verlässt sich Schulman nicht darauf, seine emotional verunsicherte Heldin auf eine digitale Selbstzerstörungsmission zu schicken. Stattdessen macht er Vee und ihren Spielpartner Ian in einem so überraschenden wie überflüssigen Kniff zu Gefangenen der bösen Nerve-Gemeinschaft. In einer Zeit, in der Teenager für das perfekte Selfie und ein paar Facebook-Likes Raubtiere ärgern oder ungesichert auf Bauträgern herumklettern war diese dramatische Verschwörung nicht nötig. Auch erzählerisch wirkt die Wendung billig – Vee und Ian, die noch vor Kurzem bei einer dramatischen Motorrad-Mutprobe das Leben vieler Unbeteiligter gefährdet haben, sind auf einen Schlag unschuldige Opfer des Nerve-Systems.
Nach dieser klaren Gut-Böse-Grenzziehung endet der Film in bekannter Mission Impossible-Manier mit Schülern, die versuchen das Spiel zu deaktivieren während im Hintergrund ein roter Countdown abläuft. Schulman selbst machte immer wieder deutlich, dass es ihm nicht darum gehe, das Internet zu verteufeln. „Das Netz ist weder gut noch böse; es kommt darauf an wie man es benutzt“, erklärte er noch im Juli. Dafür hat sein Film leider recht wenig Platz für Grautöne.
Simon Lukas
Nerve läuft ab Donnerstag, dem 8. September, im Cinecitta‘ in Nürnberg.