kultur>kolumne: In Jogginghose zum Klassik-Konzert

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Marcus Bosch dirigiert die Staatsphilharmonie Nürnberg beim Klassik Open Air 2015.

Wenn Menschenmassen zu Rock im Park strömen, ist das verständlich. Dass sie aber auch zum Klassik Open Air in Nürnberg strömen, hätte ich nicht gedacht. Wie viele Menschen hören schon klassische Musik? Ein Abend auf dem Luitpoldhain mit der Staatsphilharmonie Nürnberg oder den Nürnberger Symphonikern – warum? Anders gefragt: Warum nicht? Ein direkter Pro- und Contra-Vergleich soll die Antwort liefern.

PRO: Sonne. Bei schönem Wetter ist ein Open Air Konzert genau das Richtige – ganz egal, welche Musikrichtung gespielt wird.

CONTRA: Regen.

PRO: Die Anfahrt mit der Tram ist so einfach, dass auch Menschen ohne Orientierungssinn den Weg finden – ohne die Linie zu kennen. Man muss sich nur dort anstellen, wo alle stehen. Im Zweifel fragen. Jeder der Mitfahrer kennt die Haltestelle (außer es berücksichtigen zu viele diesen Tipp).

CONTRA: Die Tram ist voll. Wenn der Schaffner niemanden mehr einsteigen lassen darf, heißt es: „Die nächste Straßenbahn kommt in fünf Minuten.“ Sie braucht fast 15 Minuten.

PRO: Ob bei der Fahrt oder auf dem Luitpoldhain – selbst bei all den Menschen ist es möglich, Bekannte zufällig zu treffen.

CONTRA: Gut, vielleicht will man manche Bekannte überhaupt nicht treffen.

PRO: Jeder kann seinen Picknickkorb mit eigenem Essen und Trinken mitbringen. Es gibt keine Kontrollen. Das kann sehr lecker sein.

CONTRA: Es kann auch total schlecht schmecken. Die Nachbarn dagegen haben ein aufwendiges Drei-Gänge-Menü gezaubert. Futter-Neid. Ob sie bei Nachfrage etwas abgegeben würden? Kann ich nicht garantieren, ist aber eher unwahrscheinlich.

PRO: Essen und Trinken kann man sich an verschiedenen Ständen kaufen. Wer seinen Geldbeutel nicht vergisst, kann auf diese Weise die Nachbarn mit einem frischen Crêpe neidisch machen.

CONTRA: Dumm nur, wenn am Crêpes-Stand die angekündigten Bananen und Erdbeeren ausverkauft sind. Bleibt Zimt und Zucker oder Nutella. Ziemlich herber Rückschlag, wenn man sich auf Erdbeeren mit Nutella gefreut hat.

PRO: Was für ein Erlebnis, wenn etwa 90.000 Zuschauer einem Orchester applaudieren; wenn sie jubeln und ausflippen. Oder so ähnlich.

CONTRA: Eingefleischte Klassikliebhaber, die in der Szene aufgewachsen sind, finden den Zwischenapplaus furchtbar. Sie warten mit dem Klatschen, bis das Konzert zu Ende ist. So gehört sich das.

20150726_193559PRO: Die Atmosphäre ist einmalig – ein Meer aus Picknickdecken, Campingstühlen und Menschen. Ein riesiger Campingplatz. Dazwischen gibt es Tische mit weißen Tischdecken, auf denen edles Essen, Weißwein in stilechten Weingläsern, Kerzen und andere Dekoration stehen. Wer an solchen Tischen speist, sitzt nicht auf einem Camping-, sondern auf einem Holzstuhl.

CONTRA: Solche Tische stehen in der Regel an sehr guten Plätzen, von wo aus man perfekte Sicht hat. Sie nehmen anderen Besuchern viel Platz weg. Einziger Trost: Die Edel-Speisenden sitzen wahrscheinlich schon seit dem frühen Morgen dort und lächeln nur noch gezwungen, weil sie auf den harten Stühlen nicht mehr sitzen können.

PRO: Auch wenn man kurzfristig – also eine Stunde vor Konzertbeginn – zum Luitpoldhain kommt, gibt es noch Plätze, an denen die Musik durch Lautsprecher gut zu hören ist.

CONTRA: Sehen kann man natürlich nicht viel. (Das ist untertrieben. Hier müsste stehen: Nichts.)

PRO: Im Gegensatz zu anderen Konzerten ist es möglich, während der Vorstellung direkt zu der Bühne zu gehen. Nach Belieben können Selfies geknipst werden.

CONTRA: Viel Zeit bleibt nicht. Das Security-Personal fordert einen höflich, aber nachdrücklich auf, weiterzugehen. Sofort.

PRO: Die Stimmung ist sehr entspannt. Nach Lust und Laune kann man schlafen, essen, tanzen – solange sich niemand beschwert. Ein Höhepunkt des Abends sind die (kostenlos verteilten) Wunderkerzen, die viele Zuschauer zum bekannten Walzer Nr. 2 von Dmitri Schostakowitsch schwenken (ich nehme als Beispiel das Klassik Open Air vom 26. Juli 2015). Wer mir nicht glaubt, dass der Walzer bekannt ist, darf gerne googeln. Das zweite Highlight ist das Abschlussfeuerwerk.

CONTRA: Wer unter all den Menschen jemanden finden will, hat ein Problem. Anrufen funktioniert nicht, weil das Netz überlastet ist. Wer dann eine Nachricht bekommt, in der steht: „Wir haben einen Platz links neben der Bühne gefunden“, freut sich riesig. Bei 90.000 Besuchern ist diese Angabe genau das, was man gebraucht hat.

PRO: All das ist kostenlos! Und niemand meckert, wenn man mit Jacke und Glas zu seinem Platz zurückkehrt. Ein Platz, den man jederzeit wechseln könnte (wenn noch etwas frei wäre). Es gibt kein CONTRA, das dieses PRO abschwächen könnte. Auch Klassikmuffel können beim Klassik Open Air ihre Freude haben. Das kann ich nicht versprechen, aber die Chancen stehen gut.

FAZIT: Für wen ist das Klassik Open Air zu empfehlen? Für (fast) alle: Sonnenanbeter (wenn die Sonne scheint), Geizkragen und Studenten, von Freunden (alternativ: von der Ehefrau) überredete Klassikmuffel, Campingmeister, Schlafmützen, Menschenansammlungs-Fans, tolerante Klassikliebhaber, Sommerabendromantiker, Burnout-gefährdete Erholungssucher, Gelegenheits-Walzertänzer, Metropolregion-Nürnberg-Touristen, zivilisierte Festivalgänger.

Habe ich jemanden vergessen? Dann tut es mir leid. Das Spannende am Klassik Open Air sind nämlich auch die Menschen, die so unterschiedlich zusammengewürfelt sind. Ein Mann in Frack bahnt sich einen Weg durch Jogginghosen-Träger, die neben einer Gruppe Damen in Abendkleidern sitzen. Alles ist möglich. Jeder ist willkommen, jedes Jahr aufs Neue.

Patricia Achter

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