Normaler Familienalltag: Der Vater arbeitet im Parlament, die Mutter ist Hausfrau und kümmert sich um Töchterchen Flora. Die Ehe ist zerrüttet und steht kurz vor der Scheidung. Nichts Ungewöhnliches. Doch Mutter und Tochter liegen eines Tages mit der Hacke erschlagen in ihrer eigenen Wohnung. Der Mörder? Der Vater. Das einzige Motiv, das er für seine grausame Tat nennt: „Aus Liebe.“
Sonntag, 19. Juli 2015, Schauspielhaus Nürnberg, 19 Uhr: Es ist die letzte Aufführung Markus Heinzelmanns Inszenierung des Stücks „Aus Liebe“ von Peter Turrini. Der Saal füllt sich langsam, alle warten mit Spannung auf den Beginn des Stücks. Und dieses kommt in aufwendiger technischer Präsentation daher: hinauf und hinunterfahrende Bühnenbereiche, die ein flexibles und rasch veränderliches Bühnenbild ermöglichen; bester Ton für die dröhnende Musik aus den Lautsprechern; Videokameras, die das Gefilmte live auf großen Leinwänden zeigen, auf welchen auch Ausschnitte aus der Tagesschau laufen; minutenlanger Regen auf einen Teil der Bühne und so weiter und so fort. Zwischen den Szenen zahlreiche Umbauarbeiten, Umstellung und Neujustierung der Kameras durch Schauspieler und Techniker. Auch deshalb hat die Vorführung eine ganz außergewöhnliche, sowohl vom klassischen Theater als auch vom Alltag losgelöste Wirkung. Die verschiedenen Blickwinkel und Fokussierungen der Kameras sowie das veränderliche Bühnenbild schaffen die Voraussetzung für multiple Perspektivwechsel und Brüche in der Betrachtungsweise. Durch Großaufnahmen von Whiskeygläsern, von mit Kaffee aus dem Automaten volllaufenden Bechern, von umgekippten Topfpflanzen und vielem mehr wird der Blick der Zuschauer auf so banale Dinge des Alltags gelenkt und doch ist die Handlung so ungewöhnlich, dass man das Stück während der gesamten zwei Stunden Spielzeit einfach überhaupt nicht einordnen kann.
Verstrickte Handlungsstränge
Die Hauptgeschichte vom Familienalltag, der schließlich im Mord endet, ist eingebettet in zahlreiche Nebenhandlungen: Die Witwe, die sich in Kaffeehäusern zu fremden Männern setzt, sie mit Geschichten von ihrem Ehemann bequatscht und schließlich von ihrer Torte isst. – Aus Liebe selbstverständlich nur. Der Bettler, der so lange auf die Menschen einredet, bis sie ihm Geld geben, um „den Durst zu stillen“. Der kompetente Fachverkäufer, der sich dank einer Zurückstufung nun als Maskottchen zum Affen machen muss. Der Fotojournalist, der sich von den zahlreichen Hobbyfotografen bedroht und bald ersetzt sieht. Und was haben all diese Personen gemeinsam? Richtig. Alle befinden sich an ihren ganz eigenen Abgründen des Lebens. „In allen meinen Stücken hole ich meine Figuren am miesesten Punkt ihres Lebens ab“ äußerte Turrini laut Bayern 2 einmal. Und als wäre all dies noch nicht genug, wandelt inmitten jener verkrachten Existenzen der enttäuschte liebe Gott über die Erde und versucht, den Menschen seine Schöpfung in ihrer Schönheit wieder nahe zu bringen, da sie den Glauben daran verloren haben. Alle Lebensgeschichten sind so geprägt von der Realität und Gleichförmigkeit des Alltags und spiegeln die Resignation der Protagonisten so perfekt wieder, dass der Haupterzählstrang gar nicht als solcher erscheint, kennt man den Inhalt des Stücks nicht schon vorher.
Verstörende Wirkung
Doch trotz der wohlbekannten Alltagsszenen befindet man sich als Zuschauer in den langwierigen zwei Stunden ganz ohne Pause im luftleeren Raum, man ist beunruhigt, verwirrt, teilweise beängstigt. Die eigentlich bequemen Sitze werden unbequem, ungemütlich, man rutscht unbehaglich auf seinem Platz herum. Ob das nun tatsächlich an den Sitzplätzen oder vielmehr an der beklemmenden Atmosphäre im Saal liegt, ist auch für einen selbst nicht ganz klar festzumachen. Die Inszenierung ist bizarr, befremdlich, wirr und absolut abgedreht. Über die eingebauten Gags kann das Publikum nur verhalten lachen, so beklommen ist die Stimmung im Saal. Die Zuschauer sind unentschlossen, was sie von der Inszenierung halten sollen, können sie nicht einordnen. Vier Personen verlassen das Theater vorzeitig, der Applaus nach der nur schwer erkennbaren Schlussszene ist ein zurückhaltender, einer aus Höflichkeit gegenüber den hervorragenden Schauspielern. Man verlässt das Theater nachdenklich, verwirrt und verstört; die Realität außen vor den Türen des Saals wirkt unwirklich und seltsam. Ganz wie eine Zuschauerin sagte: „Da muss ich jetzt erst nochmal drüber nachdenken.“ Man braucht einige Stunden, um sich wieder in der Welt außerhalb des Theatersaals zurechtzufinden und sein Leben normal weiterzuführen. Und doch ist die Inszenierung eine gelungene. Der nüchterne, befremdliche Eindruck bietet einen optimalen Rahmen für die ernste, irgendwie bedrohliche und verschreckende Handlung. Vielleicht ist es auch genau das Anliegen Heinzelmanns und Turrinis, das Publikum aus der Fassung zu bringen und zu beunruhigen – schließlich handelt ja jeder von uns des Öfteren einfach nur aus Liebe.
Sabine Storch