Alles, was in einem Kunstmuseum steht, ist Kunst. Alles? Hier scheiden sich die Geister. So mancher Künstler hat schon die bedeutendsten Interpretationen für etwas gefunden, das andere für Müll halten. Buchstäblich. Es ist kein Einzelfall, dass eine Putzfrau ein Kunstwerk weggewischt oder weggeworfen hat. Der Schaden: Unermesslich. Kunst ist eine Frage des Betrachtens. So gesehen kann einem Kunst jederzeit und überall begegnen: Beim Friseur, auf der Arbeit, beim Einkaufen. Oder beim Spazierengehen, wo ein Einkaufswagen auf der Wiese steht.
Ein Gedankenspiel
Wenn dieser Einkaufswagen auf dem Gelände eines Kunstmuseums stünde, wenn er den beeindruckenden Titel Einkaufswagen auf der Wiese hätte, wenn daneben Pablo Picasso stünde (schlechtes Beispiel, dann wäre der Titel ja auf Spanisch und der Künstler tot) und wenn die Kuratorin eine überzeugende Interpretation anbringen würde, dann wäre das Kunst. Niemand würde sich fragen: Wie kommt denn der Einkaufswagen hierher? Nein, man würde denken: Was hat sich der Künstler wohl dabei gedacht?
An dieser Stelle hilft die Kuratorin mit einer ausführlichen Erläuterung weiter:
Wir stehen hier vor einer Installation des berühmten Künstlers *** mit dem Titel: „Einkaufswagen auf der Wiese“. Die Technik ist so speziell, dass es keinen Namen dafür gibt. Deshalb beschreibe ich Sie Ihnen in wenigen Worten: Der Künstler kaufte einen Einkaufswagen, entschied sich für den passenden Hintergrund und verbot, das Gras zu mähen. Dann stellte er den Wagen im 40°-Winkel parallel zum Bach auf. Man könnte auch sagen: Die Wiese ist die Leinwand und der Einkaufswagen das Öl. Die Installation ist im Juni 2015 in Erlangen entstanden.
Im Vordergrund sehen Sie einen handelsüblichen Einkaufswagen inmitten einer wilden Wiese. Im Hintergrund erkennen Sie Bäume, Sträucher, abgeknickte Äste. Vielleicht erahnen Sie sogar von hier aus den Bach. Nicht? Wenn Sie vorsichtig sind, dürfen Sie noch einige Schritte vortreten, um die Installation in ihrer ganzen Pracht zu bewundern.
Der Künstler selbst hat mir in einem Gespräch die Bedeutung seines Kunstwerks verraten: Der Einkaufswagen symbolisiert den Kapitalismus, der aus seinem gewohnten Umfeld – dem Supermarkt – herausgerissen wurde. Jetzt steht er in der wilden Natur: dem Ursprünglichen, dem menschlich Unberührten, dem völligen Gegensatz. Der Einkaufswagen befindet sich fern der Zivilisation und der geordneten Gesellschaft im Chaos, in der Anarchie. Mit diesem starken Kontrast will der Künstler zeigen, wie weit unsere heutige Gesellschaft und Lebensweise von dem Natürlichen entfernt ist. Der Einkaufswagen wurde aus seinem Gefängnis, aus dem Alltagstrott befreit. Der 12-Stunden-Tag, die Arbeit und der Stress im Supermarkt sind Vergangenheit. Es ist ein Ausbruch aus der kapitalistischen Welt, die nur an Geld und Macht denkt. Der Künstler will uns bewusst machen, dass jeder in seinem eigenen Gefängnis gefangen ist, ohne es zu merken. Erst ein völliger Wechsel der Umgebung öffnet einem die Augen. [Theatralische Pause] Als nächstes zeige ich Ihnen das Gemälde mit dem Titel „Chili con Carne ohne Fleisch“. Folgen Sie mir bitte.
Ende des Gedankenspiels, das tatsächlich eine etwas übertriebene Interpretation enthält. Ein Einkaufswagen mit 12-Stunden-Tag? Konsequent weitergedacht würde das bedeuten, dass er Geld verdient und gnadenlos ausgebeutet wird. Da erhält der Ein-Euro-Job eine völlig neue Bedeutung. Den Euro, den er bekommt, verliert er nach getaner Arbeit. Die einzige Belohnung ist ein vergessener Kassenbon. Das wäre ein so trauriges Leben, dass es besser ist zuzugeben: Es ist totaler Unsinn, den Einkaufswagen zu vermenschlichen. Er ist und bleibt ein Einkaufswagen. Keine Kunst. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Irgendjemand hat ihn mitten auf der Wiese vergessen. Fehlt nur noch die Durchsage: „Der Einkaufswagen Nr. 1234 möchte an der Wiese im Erdgeschoss abgeholt werden.“ Da steht er nun, der verlassene Einkaufswagen. Und wenn ihn niemand abgeholt hat, dann wartet er noch heute.
Patricia Achter
Die kultur>kolumne erscheint ab jetzt regelmäßig bei re>flex. Thema: Kunst und Kultur im Alltag (im weitesten Sinne). Falls ihr ein Kulturerlebnis der besonderen Art habt und idealerweise sogar ein Foto geknipst habt, könnt ihr es gerne senden an: patricia.achter@reflexmagazin.de. Ich freue mich auf eure Vorschläge!
(Einigermaßen) aktuelles Beispiel für eine misslungene Unterscheidung von Kunst und Gesellschaft: http://www.nbcnews.com/news/world/truck-art-installation-gets-parking-ticket-germany-n382031