Poetry Slam ist längst kein subkulturelles Randphänomen mehr, das in kleinen Hinterhöfen stattfindet. Stattdessen wird jetzt im Palais Stutterheim geslammt, das bereits ausverkauft ist, bevor die Abendkasse öffnen kann. Die Zuschauermenge erscheint bunt gemischt wie selten und Moderator Nicolas Schmidt begrüßt seine Eltern. Einziges Überbleibsel der Hinterhof-Atmosphäre: eine besprayte Holzpalettenwand als Bühnenkulisse.
Das macht aber nichts. Denn der zweite Palais-Slam in Erlangen vergangenen Freitag, der von der Stadtbibliothek organisiert wurde, zeigt: Der Spagat zwischen romantisch-eigenwilliger Hinterhof-Individualität und dem Dichten für ein breites Publikum kann gelingen, ohne Mainstream-Langeweile aufkommen zu lassen. Zum einen, weil alle vier Poeten auf unterschiedliche Weise innovative Kreativität beweisen. Zum anderen, weil sie sich gar nicht so weit strecken müssen beim Spagat, weil das Publikum bereit scheint für Vielfältiges, für Unerwartetes.
Erotik zwischen den Zeilen und leise Alphatiere
So gelingt es Lucas Fassnacht, fragende Blicke und ratlose Spannung zu erzeugen, als er die Zuhörer auf die Suche nach der verlorengegangenen Erotik in der Sprache mitnimmt und von einem gelehrten Literaten erzählt, der diese nach der Lektüre von „Twilight“ wiederherstellen möchte. Nach mehreren Anläufen findet er, und mit ihm das Publikum, allerdings heraus, dass Erotik eigentlich zwischen den Zeilen weilt. Nicht um Erotik, aber um Liebe geht es bei Fassnacht in der zweiten Runde – um Liebe zu einer syrischen Stadt. Der Slammer, der in Erlangen nur noch viel zu selten als solcher in Erscheinung tritt, sondern vor allem die Rolle des Moderators und Organisators eingenommen hat, zeichnet mit duftenden Bildern die Atmosphäre Aleppos, in die die plötzliche Zerstörung hereinbricht: „Was tausend Jahre währt, stirbt in Stunden“.
Lautstärke bespricht und demonstriert Alex Burkhard, Moderator der Show „Stadt-Land-Fluss“ aus München. Er stellt fest, dass man trotz Getöse lautlos bleiben kann und Alphatiere im Rudel immer die leisesten sind. Er berichtet, wie ihm seine Stadt am Ende zuflüstert, er solle etwas Verrücktes tun, er, der Schuster, der sonst immer bei seinem Leisten bleibt und grundsätzlich unglücklich verliebt ist.
Heidis Horror Picture Show und Otherees
Eher leise und ruhige Musikeinlagen gibt es zwischendurch von Moderator und Lehrer Nicolas Schmidt, der außerdem zu Beginn des Dichterwettbewerbs mit seinem Opferlamm-Text zu einer Schulstundendiskussion über Dialektik und Martin Walser für die Einstimmung sorgt. So einige Opfer bringt Fee aus München inzwischen aus Verzweiflung über die Vorurteile, die ihr als Theologiestudentin entgegengebracht werden: Hochgeschlossenes Kostüm auf Partys, Bibelzettel – und sie hat ihre Ruhe vor Smalltalk-Gesprächen über ihr Studienfach.
Im Finale verwandelt sich Fee in eines der Mädchen aus „Heidis Horror Picture Show“, das zunächst eine Laufsteg-Performance vorführt, dann verkündet, dass es „das Potential stemmen kann, weil der frühe Wurm malt zuerst“ und schließlich als immerwährende Gewinnerin Heidi Klum präsentiert.
Der zweite Finalist ist Thomas Spitzer aus Regensburg, der schließlich auch, mit eher unentscheidbarem Applaus, den Sieg davonträgt. Wenn alles anders wäre, stellt er in einem seiner Texte fest, würden Selfies Otherees heißen und nicht einen selbst, sondern andere abbilden und wären damit im Prinzip ganz normale Fotos.
Wenn alles anders wäre, wäre das Publikum vielleicht noch das, was Spitzer in einem Text gegen übertriebene Korrektheit in der Sprache beschreibt, und bestünde nur aus „Germanisten oder Kulturfrauen mit lila Haaren, die Tamburinkurse besuchen und Traumfänger flechten“. So ist es aber nicht – glücklicherweise.
Vera Podskalsky