„Gott ist in einer Tüte“

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Christian Wincierz, Violetta Zupancic. Foto: © Jochen Quast.

In einer Tüte? Gott? So schnell kann ein Zitat, aus dem Zusammenhang gerissen, für Verwirrung sorgen. Und schon sind wir mitten im Theaterstück Unschuld, geschrieben von Dea Loher, inszeniert von Katja Ott am Theater Erlangen. „Gott ist in einer Tüte“, sagt der illegale afrikanische Einwanderer Fadoul (Patrick Nellessen) zu den anderen Charakteren. Verständnislosigkeit. Nur die Zuschauer haben eine Ahnung, wovon er spricht.

Denn zuvor hat er in einem Monolog über Gott und Schicksal nachgedacht: Darüber, dass er und Elisio (Christian Wincierz), ein weiterer illegaler Immigrant, eine rothaarige Frau im Meer gesehen haben. Dass sie darüber diskutiert haben, ob sie sie retten sollten. Zu lange. Die Frau war bereits ertrunken. Die Männer waren zu feige. Nur: In der Tüte, die sie am Strand zurückgelassen hatte, fand Fadoul sehr viel Geld. So schlimm es ist, dass die fremde Frau tot ist – für Fadoul ist das Geld ein Glücksfall. Von Gott gegeben. Mit den Euroscheinen will er anderen Wünsche erfüllen, zum Beispiel der blinden Absolut (was tatsächlich ihr Name ist; die Schauspielerin heißt Violetta Zupancic). Er hat sie am Strand kennengelernt und will ihr das Augenlicht zurückgeben, also selbst Gott spielen.

Das ist nur ein Ausschnitt aus der Handlung, die noch weit vielschichtiger und verschachtelter ist. Die Leben der Figuren berühren sich an bestimmten Punkten, verschiedene Handlungsstränge laufen zusammen und ergeben am Ende mehr oder weniger Sinn. Sinn – das ist ein zentrales Thema. Was ist der Sinn des Lebens? Warum nicht einfach sterben? „Das Leben – ein einziges Warten auf den Tod“, grübelt der Bestatter Franz (Daniel Seniuk). Vier Selbstmorde kommen in der Aufführung vor. Für die beiden Afrikaner ist es schwer zu verstehen, warum sich Menschen in Europa freiwillig umbringen, während sie in Afrika wie die Fliegen sterben. Sehr aktuell sind die Bezüge in Unschuld: Neben der Flüchtlingsdebatte weist die Philosophin Ella (Marion Bordat) auf Social Freezing und die NSA hin. Das einzige, woran sie glaubt, sind Zufälle. Ihre Theorie: Die Welt ist unzuverlässig.

 

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Die Schauspieler rufen: „Spring!“ Foto: © Jochen Quast.

Das Rad dreht sich

Die Theorie wird von der Aufführung bestätigt. Schuld an der Unzuverlässigkeit der Welt sind nicht nur die Politiker, sondern alle. Wenn jemand Selbstmord begeht, hat ihn womöglich die ganze Gesellschaft dazu getrieben. Eindringlich zeigt das eine Szene, in der sich alle Schauspieler zu einer Traube versammeln, zugleich auf einem Bildschirm zu sehen sind und im Chor rufen: „Spring!“

Die Videos von Christoph Panzer sind ein wichtiges Element der Inszenierung. Ob eine Dokumentation oder die Nahaufnahme eines Schauspielers: Mit Bildern wird die Aufführung ergänzt, kommentiert oder auf lustige Weise untermalt. Was den Inhalt der Inszenierung auch sehr gut widerspiegelt, ist die Drehbühne, die immer wieder von den Schauspielern weitergedreht wird. Das erinnert an Sisyphos, der als Strafe in der Unterwelt einen Felsblock den Berg hinaufwälzen muss. „Wir wären alle gerne unschuldig“, sagt die kinderlose Frau Habersatt (Anja Lechle) einmal. Unschuld zeigt, auf welch unterschiedliche Weise jeder seine eigene Schuld und Last trägt. Wie unterschiedlich, das beweisen die Schauspieler durch die beeindruckend verschiedenartige Darstellung der vielen Charaktere. Hier prallen Welten aufeinander. Die Aufführung ist sehr abwechslungsreich und immer wieder überraschend, manchmal auch humorvoll.

Von den Zuschauern werden Geduld und Aufmerksamkeit verlangt: Geduld, weil eine Vorstellung fast drei Stunden dauert und stellenweise langatmig ist. Aufmerksamkeit, weil in dieser Zeit so viel passiert und sich so viele Handlungsstränge miteinander verbinden, dass man alles genau verfolgen muss, was auf der Bühne passiert. Wer sich der Herausforderung stellt, bekommt viele Impulse mit auf den Weg. Keine eindeutige Antwort, nur Denkanstöße. So verschieden die Facetten in der Inszenierung sind, so stark weichen wohl auch die Gedanken der Zuschauer voneinander ab. Jeder pickt sich das heraus, was ihn am meisten anspricht.

Patricia Achter

Weitere Vorführungen im Theater Erlangen:
02.05.2015   19.30 Uhr
03.05.2015   18.00 Uhr
19.05.2015   19.30 Uhr
20.05.2015   19.30 Uhr
30.06.2015   19.30 Uhr
01.07.2015   19.30 Uhr   

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