„Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr.“ Ein Familienvater überfährt nachts einen – vermutlich – illegalen Einwanderer. Was tun? Er lässt ihn liegen und hat noch keine Ahnung, wie folgenschwer diese Entscheidung sein würde. – Ayelet Gundar-Goshens zweiter Roman Löwen wecken besticht durch seine atmosphärische Dichte.
Der junge Arzt Etan Grien wurde in eine Provinzklinik versetzt und steht nun vor einer beruflichen Sackgasse. Um sich nach Feierabend Luft zu machen, brettert er nachts mit seinem Jeep durch die Dünen von Beer Sheva. Er überfährt einen Eritreer, der offensichtlich nicht mehr zu retten ist – und lässt ihn liegen, und sterben.
Am nächsten Morgen jedoch steht die Witwe des Überfahrenen vor seiner Tür und fordert ihn dazu auf, sich am Abend an einer verlassenen Autowerkstatt einzufinden. Etan erscheint dort schließlich mit einer Menge Geld, muss jedoch erfahren, dass er ihr Schweigen nicht mit Geld erkaufen kann:
„Etan blickte die Eritreerin fragend an, und sie erklärte ihm langsam, wie einem Kind: Sie werde das Geld nehmen. Aber nicht nur das. Die Leute hier bräuchten einen Arzt. […] Deshalb möge der verehrte Herr Doktor ihr bitte seine Telefonnummer geben – sie habe sie gestern nicht in seinem Portemonnaie gefunden –, damit sie bei Bedarf jederzeit Hilfe holen könne. […]
Aha, dachte er, die eritreische Hündin will mich erpressen. […] Verdammt, welcher Arzt wäre bereit, auf einem rostigen Metalltisch in einer aufgegebenen Autowerkstatt Kranke zu behandeln? Im Geiste sah er Dutzende Anwälte um das Recht rangeln, die Klage des Jahrzehnts wegen ärztlicher Fahrlässigkeit einzureichen. Nein, du schwarzäugiger, weiblicher Che Guevara, dazu wird es nicht kommen.“ (S. 65 f.)
Etan meint jedoch keine andere Wahl zu haben und sieht sich binnen kurzer Zeit in der Situation eine illegale Notfallpraxis zu betreiben. Während seine Vorurteile schwinden und sein Verhältnis zu Sirkit, der Eritreerin, langsam auftaut, verliert Etan die Kontrolle über sein altes Leben: Er vernachlässigt seine Arbeit im Soroka Krankenhaus und sein Familienleben. Als ob das nicht genug wäre, verfolgt Etans Ehefrau Liat, die Kriminalkommissarin ist, eine heiße Spur, die sie früher oder später zu ihrem Mann führen muss… Doch Liat ist nicht die einzige, die nach dem Mörder des Eritreers sucht, denn dieser war in geheimer Mission unterwegs. So gerät Etan in einen Strudel, der ihn durch den Untergrund der israelischen Gesellschaft trägt – illegale Einwanderer, Beduinen, Drogenhändler…
Auffallend ist dabei die Trägheit des Arztes Etan Grien, der sich stets unversehens in neuen Situationen wiederfindet, auf die er nur noch reagieren kann. Den ganzen Roman hindurch bewegt er sich auf dem schmalen Grat zwischen Rettung und Absturz.
Mehr als ein Entwicklungsroman
Die isrealische Autorin Ayelet Gundar-Goshen hat in ihrem Debütroman Eine Nacht, Markowitz eine magische Liebesgeschichte erzählt, die mitten in die Wirren der Gründung eines jüdischen Staates fällt. Bereits hier hat sie ihr großes Talent für sensible Figurenzeichnung bewiesen. Klar, die Charaktere von Löwen wecken hat sie nicht mit Feenstaub besprenkelt, wie man für das Personal ihres Erstlings annehmen muss. Im Gegenteil: Sie sind alle sehr menschlich: sie verletzen ihre Prinzipien, sie zögern und bereuen, sie lügen und verlieren die Fassung. Die große Stärke des Romans liegt darin, dass hier nur ambivalente Figuren handeln. So heißt es auch treffend auf der Umschlagrückseite: „Ein Roman, der sich in der stark umkämpften Grauzone zwischen Liebe und Hass, Schuld und Vergebung, Gut und Böse bewegt.“
Und obwohl nicht recht deutlich wird, welche Lehren aus der Lektüre gezogen werden sollen, so stört doch bisweilen der moraldidaktische Tonfall des Romans. Nur: Möchte er auf die Situation illegaler Einwanderer aufmerksam machen? Die Selbstgerechtigkeit und kleinbürgerliche Blindheit der jüdischen Siedler kritisieren? Eine Antwort auf die Frage liefern, welchen Wert ein Menschenleben hat? Vermutlich all das und noch mehr – was für den überschaubaren Umfang des Romans ein wenigstens ambitioniertes Projekt ist.
Trotzdem ist Löwen wecken mehr als ein Entwicklungsroman. Nun, eigentlich kann man sich sogar trefflich darüber streiten, ob sich hier überhaupt irgendeine Entwicklung vollzieht. Was fängt Etan mit dem Bewusstsein an, „dass eine andere Bahn im Bereich des Möglichen liegt“? Da darf man pessimistisch sein. Nein, in erster Linie entwickelt sich hier aus einem Kriminalstück schnell ein atmosphärisch dichter Thriller, der wie nebenbei den Finger in die Wunden der israelischen Gesellschaft legt. Während die ethischen Fragen mitunter etwas platt verhandelt werden, bestechen die sozialkritischen Aspekte hingegen durch die scharfsinnige Beobachtungsgabe der Erzählerin und ihre kluge Komposition innerhalb des Romans. Unterm Strich ist Löwen wecken ein Buch, das man schneller gelesen hat, als man es aus der Hand legen möchte.
Ayelet Gundar-Goshen, Löwen wecken. Zürich: Kein und Aber, 2015, 424 S., € 22,90, ISBN 978–3-0369–5714-2.
Timo Sestu