Gute, schlechte und halbherzige Wünsche

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Bild: S. Fischer Verlag GmbH

 

„Es birst ein Jahr und fährt in die Ewigkeit.
Ein Jahr des Todes und dunkler Geschicke voll,
stürzt es dem vorigen nach in sein Blutmeer,
räumt es der Zukunft die trostlosen Stätten.“

 

So fängt ein Gedicht an, das Erich Mühsam zum Jahreswechsel 1916/17 geschrieben hat. Mitten im Ersten Weltkrieg. Hundert Jahre ist der Beginn des Krieges nun schon her und trotzdem: Das Gedicht hätte ebenso gut zum Jahreswechsel 2014/15 entstanden sein können.

Im vergangenen Jahr schienen all die Konflikte – ob in der Ukraine, im Gazastreifen oder in Syrien – kein Ende zu nehmen. Die Augen verschließen konnten auch die Deutschen nicht. Nicht, wenn Flüchtlinge um Hilfe baten und bitten. Wann wäre ein besserer Zeitpunkt als jetzt, um eigene Vorurteile zu überdenken? Um sich etwas vorzunehmen, zu wünschen, zu hoffen? Schaden kann es nicht. Ein Neujahrswunsch geht in Erfüllung, ein anderer nicht. „Und ich wünsche, daß Gott diesen Wunsch nur in dem höchstseltenen Falle gewähren möchte, wenn der Wünscher vernünftig ist“, schreibt Daniel Christian Schubart. Er traut den Menschen wenig Vernunft zu: „Der Arm des Menschen würde bis an die Sterne reichen, und Welten aus ihren Sphären reißen.“

Gotthold Ephraim Lessings Brief an seine Schwester beweist, wie schlecht gewisse Wünsche anderen bekommen würden: „Ich wünsche Dir, dass Dir Dein ganzer Mammon gestohlen würde. Vielleicht würde es Dir mehr nutzen, als wenn jemand zum neuen Jahre Deinen Geldbeutel mit einigen 100 Stück Dukaten vermehrte.“ Lessing war immerhin ehrlich und geradeheraus. Der Etikette-Experte mit dem sperrigen Namen Eustachius Graf Pilati von Thassul zu Daxberg bemängelt: „Wie viele Müllers gratuliren Schulzens nur aus dem einzigen Grunde zum Neujahr, weil ja auch die Schulzens den Müllers gratuliren.“ Auf halbherzige Glückwünsche kann man verzichten. Da sollte man es lieber wie Georg Christoph Lichtenberg machen, der seinem Barbier in Osnabrück wünscht:

„ Allerteuerster Barbier,
Recht von Herzen wünsch ich dir
Dass die Tracht der langen Bärte
Dieses Jahr nicht Mode werde.“

Das ist doch ein sehr vernünftiger Wunsch, gegen den wahrscheinlich nicht einmal Schubart einen Einwand gehabt hätte. Aber egal, ob vernünftig oder unvernünftig: Jeder Wunsch darf gewünscht werden. Ob er in Erfüllung geht, können wir sowieso nicht wissen. Die Hoffnung auf ein gutes (oder besseres) neues Jahr ist nicht verkehrt. Sogar am Neujahrstag 1915 beendete Franz Marc seinen Brief aus dem Kriegsgebiet optimistisch: „Um unsre Zukunft ist mir nicht bang.“ Wenn er im Ersten Weltkrieg so denken konnte, können wir es im Jahr 2015 erst recht.

Patricia Achter

 

Liebe Leserinnen und Leser, wir wünschen euch ein gutes neues Jahr und drücken die Daumen, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht!

Eure Redaktion

 

„Silvester und Neujahr. Ein Lesebuch“
Herausgeber: German Neundorfer
Fischer Taschenbuch Verlag, 8,00 Euro
ISBN: 978-3-596-90119-7

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