Apple-Nutzer reiben sich verwundert die Augen, sie trauen Ohren und Erinnerung nicht mehr: Unter den kürzlich gekauften Artikeln findet sich seit gestern, was, das brandneue U2-Album? Einkaufs-Amnesie? Nicht doch: Ein Geschenk von Apple, wie es heißt. „I get so many things I don’t deserve“, singt Bono gleich im ersten Song. Und das trifft es gut. — Womit haben wir das denn verdient?
Der „chinesische“ Medien-Gigant designed in California schwingt zur Markteinführung des neuen iPhone 6 also mächtig die Marketing-Keule: „Apple und U2 verschenken das neue Album Songs of Innocence an über 500 Millionen iTunes Kunden weltweit. Noch nie hatten so viele Menschen ein Album, und schon gar nicht am Tag der Veröffentlichung.“ Zugegeben, diese vielen Menschen hatten bei der Sache auch relativ wenig Mitsprache. Zwangsgeschenkt könnte man das gar nennen. Aber einem geschenkten Gaul gibt man doch wenigstens die Chance, ein paar Liedchen zu trällern? Geschenkt ist schließlich geschenkt, oder nicht?
Unter den U2-Fans dürfte die Freude unbändig sein. Das letzte Studioalbum, No Line On The Horizon, veröffentlichten die irischen Charity-Rocker im Frühjahr 2009. Seitdem waren sie mit Daniel Lanois und Brian Eno, mit Produzenten-Legende Rick Rubin, Will.i.am, Brian Burton (Danger Mouse), David Guetta, RedOne (Lady Gaga), Paul Epworth und zuletzt OneRepublic-Frontmann Ryan Tedder im Studio. Sie experimentierten, suchten entschlossen, schonungslos und experimentierfreudig nach einem neuen Sound, produzierten Material für mehrere Alben — und hielten alles unter Verschluss. Und jetzt geschenkt?
„Think of it this way: The blood, sweat and tears of some Irish guys are in your junk mail.“
Richtig deutlich wird Bono in seinem offenen Brief an die Fans nicht. „Free, but paid for“ beschreibt er den Deal mit Apple, und verspricht, dass U2 auch in den nächsten Jahren gemeinsam mit dem Technologiekonzern innovative Wege beschreiten und die Art revolutionieren will, wie Musik gehört wird. Und genau in dieser Frage liegt letztlich der große Reiz dieser ganzen Aktion: Wie funktioniert der Musikmarkt der Zukunft?
Gerade ein Jahrzehnt ist es her, dass Apple mit dem iPod und dem iTunes Music Store die Musikwelt revolutionierte. Der Marktanteil digitaler Musik steigt seitdem ungebrochen. Verwunderlich dann, dass die Telekom Anfang des Jahres 2014 bekannt gibt, ihr eigenes Download-Portal aus Wettbewerbsgründen zu schließen? Ist denn auch das Zeitalter der Download-Musik schon wieder vorbei? In der Tat heißt die Revolution der nächsten Jahre Streaming: Spotify, Simfy, Napster und Konsorten. Und deren Angebot hört sich haargenau nach dem an, was Bono den U2-Fans als unerhörte Sensation verkaufen möchte:
„In den nächsten 24 Stunden werden mehr als eine halbe Milliarde Menschen Songs of Innocence haben… sollten sie sich entschließen, es anzuhören. Das ist so aufregend. Leute, die unsere Musik nie gehört haben (…) hören uns vielleicht zum ersten Mal, nur weil wir in ihrer Sammlung auftauchen.“ Genau das ist die Idee hinter den werbefinanzierten oder premium-abonnierten Millionen-Titel-Katalogen von Spotify und Konsorten. Dort liegt nämlich EINFACH ALLES „einfach so“ in deiner Sammlung: Schon jetzt mehr als 20 Millionen Songs, mit 20,000 täglichen Neuzugängen.
Ist die geschenkte/gekaufte „größte Album-Veröffentlichung aller Zeiten“ (Apple-Chef Tim Cook) also eine Flucht nach vorne? iTunes-Käufer binden, ehe sie zu Spotify abwandern? Kunden halten, bis Apple und Hauptkonkurrent Amazon auf eigene Streaming-Dienste umschwenken? Den Musikmarkt der Zukunft, so sieht es jedenfalls der Bundesverband Musikindustrie, teilen sich Streaming und CD: Ein Album auf CD bleibt jenes anfassbare Stück Musik, was Audiophile auch heute noch schätzen; der Marktanteil der Streaming-Dienste ist allein 2014 innerhalb eines Jahres um mehr als 90 Prozent gewachsen. — Kann Apple diesen Trend wirklich mit einer Gegen-Innovation toppen?
Nur eines ist bislang bewiesen: Rockbands mit U2-Kaliber — und das sind nicht viele — können es sich heute leisten, Alben zu verschenken. Warum? Weil auch deren Geschäftsmodell sich verändert hat. Möglich machen das nämlich — neben dem nicht bezifferten Apple-Buy-Out — eine Special Edition des Albums im Oktober, eine regulär verkaufte quasi „zweite Hälfte“ des Albums, Songs of Experience, und eine anschließende umsatzträchtige Tour: Das letzte Album verkaufte sich schleppend und blieb hinter den Verkaufserwartungen zurück. Die darauffolgende „360° Tour“ hingegen gilt als erfolgreichste Tournee aller Zeiten. Gesamtumsatz: 736 Millionen Dollar.
Um Bonos eigene Worte zu verdrehen: „’Free‘ music isn’t really that free.“
Andreas Pohr