Moonboots und Mikrofon: Manch einer, der die Premiere des Theaterstücks „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“ am vergangenen Samstag besucht hat, hätte sich die beliebte Romanfigur aus Mark Haddons gleichnamigen Roman wohl anders vorgestellt. Vor allem auch, weil der Roman viel von dem Innenleben des Asperger-Authisten erzählt. Doch das kann man scheinbar unterschiedlich auslegen. In der Inszenierung von Christoph Mehler wird das Innere nach außen gekehrt: Das ist ein schmerzhafter Prozess für jeden, der einen entspannten Theaterabend erwartet hat.
Die Geschichte, um die es im Roman und im Theaterstück geht, ist in ihren Grundzügen schnell erzählt: Der 15-Jährige Christopher findet den Hund der Nachbarin tot auf. Da die Erwachsenen nicht an einer Aufklärung des Verbrechens interessiert sind, möchte Christopher die Sache selber in die Hand nehmen. Gar nicht so einfach für einen Asperger- Authisten, der sich vor dem Umgang mit Menschen fürchtet. Auf seiner Suche nach dem Täter gerät Christopher zunehmend an ein Familiengeheimnis, das seine ganze Welt auf den Kopf stellt, die jedoch auf keinen Fall durcheinander geraten durfte. Am meisten hält sich Christopher dort auf, wo er sich am wohlsten fühlt: in seinen Gedanken. So stellt er sich vor, Astronaut zu sein, weit weg von allem Chaotischen. Zur Entspannung geht er gelegentlich alle Primzahlen bis zu 7507 durch.
Wie macht man aus einem so stillen Charakter den Protagonisten eines Theaterstücks? Simon Stephen, der Autor der originalen Bühnenfassung, stellt Christophers Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Die Geschichte soll nicht, wie aus der Leserperspektive, von außen, sondern von innen betrachtet werden.
Alles hat Bedeutung
Christopher steht im Zentrum seiner Welt, in dem auch Wellington, der getötete Hund, liegt. Seine Welt ist eine sich drehende Plattform, so dass sich scheinbar alles um ihn dreht- wobei er selber es ist, der sich dreht. Das hat etwas Kopernikanisches. Es hat auch etwas Praktisches: Denn auf diese Weise hält er sich sein Umfeld auf Abstand. Über ihm erstreckt sich das Universum, das Christopher zuvor mit allen Kräften wie ein Garagentor aufgeklappt hat. Die anderen Figuren kreisen um ihn, zwitschern und strengen sich auf lächerliche Weise an, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Oder mit ihm Schritt zu halten. Da muss Miss Alexander (Pius Maria Cüppers), die freundliche Nachbarin, schon einmal mitjoggen. Das Privileg, gehört zu werden, wird seinem Umfeld durch ein Mikrophon zuteil, das Christopher bei sich trägt. Was im Roman als Gedanken zu lesen war, wird nun direkt ausgesprochen. Christopher erscheint dadurch redseliger, direkter, unerschrockener. Aber auch stärker, was nicht zuletzt an dem charismatischen Auftreten von Henriette Schmidt liegt, die ihn verkörpert.
Ein Grund, warum es schwer fällt, die Interpretationen, die das Stück erfährt, zu akzeptieren, ist, dass man schlichtweg den Roman anders gelesen hat als Simon Stephen und Christoph Mehler. Figuren, die man als sympathisch und auch nicht unmenschlich wahrgenommen hat, wirken in der interpretierten Weltsicht Christophers oft zu verzerrt. Dabei zeigt das Theaterstück einfach eine andere Perspektive auf die Geschichte. Dennoch möchte man nicht glauben, dass er seinen Vater (gespielt von Stefan Lorch) nur als einen – so könnte man es durchaus beschreiben – albernen Hampelmann (mit durchaus eigener Tragik) empfindet.
Am verheerendsten erscheint aus dieser persönlichen Sicht die Szene, in der Christopher die Briefe seiner Mutter (Nicola Lembach) entdeckt, in denen klar wird, dass sie, anstatt, wie vom Vater behauptet, gestorben zu sein, lediglich mit ihrem Liebhaber Roger durchgebrannt ist. Wo man im Buch Verständnis für diese Figur empfindet, da sie ihren Sohn einerseits liebt und andererseits ihre eigene Ungeduld mit ihm nicht erträgt, und sich somit dazu entscheidet, ihn zu beider Wohl zu verlassen, wird jede liebevolle Formulierung der Briefe entblößt. Im wahrsten Sinne des Wortes buhlt sie um die Zuneigung zu ihrem Sohn, indem sie sich, von Roger auf die unterschiedlichsten Weisen (unter Andeutung) begattet, um ihn herum bewegt und jeden einzelnen Satz der Briefe stöhnt. Es geht unter anderem um eine Modelleisenbahn, die Christopher als Kind geschenkt bekommen hat, und mit der er einige Wochen gespielt haben soll. Ganz schön komisch, wenn die beiden sich einander liebend eine halbe Ewigkeit um die Drehscheibe herum bewegen. Das ganze wäre ja lustig, wäre es nur schneller wieder zu Ende. Auch hier möchte ich mir nicht vorstellen, dass Christopher so viele Gedanken an den Sexualakt der beiden verschwendet. Eben auch gerade deshalb, weil seine innere Antwort rein gar nichts damit zu tun hat, sondern vielmehr zeigt, an wie viele Details er sich im Vergleich zu seiner Mutter erinnern kann. Die Erinnerung an den gemeinsamen Urlaub wird aber leider nur schnell heruntergeleiert und geht somit unter.
Ein Zuviel von Welt
Es ist schade, dass viele Gespräche und Figurenzüge unter der beschränkten Wahrnehmung, die man Christopher unterstellt, leiden. Einerseits werden so Kitschfallen umschifft, andererseits bleibt die Poesie, die im Roman mitschwang, auf der Strecke. Oberflächliche Rührseligkeit tritt dann plötzlich am Ende zu Tage, als man dem Zuschauer noch ein Happy End serviert- entweder als Trostpflästerchen für einen zu verstörenden Abend oder aber um den Ansprüchen des Premierenpublikums eine Art Spiegel vorzuhalten. Nur dass dieses Happy End es nicht besser macht- denn jeder der albernen, einfarbigen Charaktere stürmt nach vorne und berichtet von seiner blühenden Zukunft, und das ist eigentlich immer nur eine weitere Lovestory.
In dieser Inszenierung geht auch nicht so sehr um Inhalte, als um Ausdruck. Das ist einerseits genial gelungen und tut andererseits weh. Das Stück ist laut, hektisch, es hat Längen. Denn Christophers Wahrnehmung der Welt ist nun mal keine entspannte. Und so möchte man sich an manchen Stellen am Liebsten die Ohren zuhalten und schreien. Doch ich halte, und das schafft nicht jeder, bis zum Ende durch. Auch mit dem Applaus. Denn das Ensemble, allen voran Henriette Schmidt, hat eine brilliante Leistung vollbracht, die es zu würdigen gilt. Auch das Konzept ist gelungen, denn es hat funktioniert: Als ich das Stück verlasse, fühle ich mich, wie sich Christopher fühlen muss. Die Welt ist mir einfach zu viel.
Anna Greger