Individueller Reigen

Ehemann (Florian Erbesdobler) und süßes Mädchen (Corinna Pfarr)

Ehemann (Florian Erbesdobler) und süßes Mädchen (Corinna Pfarr)

Eines der skandalösesten Stücke der Theatergeschichte wird uns heute wohl kaum noch erschüttern, es sei denn durch das Erstaunen, man habe so etwas eben schon 1903 geschrieben. Warum sich Arthur Schnitzlers „Reigen“ dennoch großer Beliebtheit erfreut, konnte man am vergangenen Abend in der Inszenierung des AMVi-Theaters sehen.

In zehn Szenen stehen sich jeweils zwei Personen gegenüber und kommen nach und nach einander näher. Bis es zum nicht explizierten Geschlechtsakt kommt. Bei Schnitzler wird das durch eine gestrichelte Linie im Text dem Leser deutlich (–  –  –  –  –  –  –  –  –  –  –). Im Anschluss entfernen sich die „Liebenden“ jäh voneinander. Immer liegt der Grund in der Unzufriedenheit eines einzelnen oder in der schlichten Unmöglichkeit der Situation. Der Clou ist nun, dass je eine Figur der vorigen Szene auch in der folgenden Szene zu sehen ist, sodass diese Suche nach Erfüllung und Liebe von Szene zu Szene weitergereicht wird. Aus diesem Reigen entspinnt sich so ein Geflecht aus falschen Erwartungen, enttäuschten Hoffnungen und asymmetrischen Verhältnissen.

Das AMVi-Theater, die Theatergruppe der AMV Fridericiana, hat sich nun mit einem interessanten Ansatz an die Inszenierung dieses Stückes gewagt. Die zehn zu vergebenen Rollen wurden ausgelost und jeder der zehn Schauspieler bekam außerdem eine der zehn Szenen zugelost, für die er sich als Regisseur verantwortlich zeichnete. So gerät Schnitzlers Skandalstück zu einer „Suche nach der individuellen Perspektive im immer gleichen und doch so unterschiedlichen Werben umeinander“.

Freilich möchte uns Schnitzler mit seinem Figureninventar durch alle Gesellschaftsschichten von der Dirne bis zum Grafen wohl kaum die Individualität jeder einzelnen Begegnung anzeigen. Eine Brechung erfährt das Stück aber dann doch gerade in der letzten Szenen, die sich eben zwischen Dirne und Graf ereignet. Hier wird der Reigen unterbrochen, da die beiden auch nicht zum Liebesakt kommen. Vielmehr erkennt der Graf eine alte Liebe im Gesicht seiner nächtlichen Eroberung und wird melancholisch: „Es wär doch schön gewesen, wenn ich sie nur auf die Augen geküsst hätt. Das wäre beinahe ein Abenteuer gewesen… Es war mir halt nicht bestimmt.“

Diese Szene wurde auch von den Schauspielern des AMVi-Theater glaubhaft inszeniert. Es ist eine schmerzliche Absage an die echte Liebe, die sich als unerfüllbar erweist. Der Reigen könnte nun doch von vorn beginnen.

Dadurch, dass die Rollen den einzelnen Schauspielern zugelost wurden, ergab sich eine beachtliche Neuanlage des Stücks. So wurde gestern auch homosexuelle Liebe wie selbstverständlich mit in den Reihen eingeflochten, als Christian Bott und Florian Erbesdobler in den Rollen als Junger Mann (eigentlich: Junge Frau) und Ehemann zu sehen waren.

Besondere Erwähnung verdienen jedoch vor allem die Momente, die die Auslassungszeichen (–  –  –  –  –  –  –  –  –  –  –) umspielen. So wurden immer neue Bilder für eine sexuelle Annäherung gefunden, die zwar häufig weit vorher offensichtlich wurden, dennoch in ihrer Wirksamkeit kaum dadurch einbüßten. So wäre etwa der Graf zu nennen, der die Schauspielerin mit einer Sektflasche unter dem Arm besucht. Den Moment der Entladung symbolisiert das Knallen des Korkens. Der Ehemann fällt über das süße Mädel her, indem er einen Pfirsich isst. Der Fruchtsaft läuft ihm dabei den Arm hinunter (im Bild). Neben dem pointierten Witz – immer eine Stärke des AMVi-Theater – strahlten die meisten Szenen eben durch diese durchdachte, aber wenig überladene Metaphorik.

Gerade in der individuellen Annäherung von Szene zu Szene, ja dadurch, dass sich der Einakterzyklus (schon bei Schnitzler) nicht auf eine einheitliche (Bild-)Sprache festlegt, gelingt den 10 Darstellern und deren Dramaturgin Ruth Kimmich eine zeitgemäße und kurzweilige Interpretation.

Weitere Aufführungen heute, 13.6., am 14. und 17.6. jeweils um 20 Uhr im Saal der AMV Fridericiana, Glücksstraße 3 in Erlangen.

 

Timo Sestu

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