Das Erscheinungsbild der Überschrift ruft Assoziationen mit Jirgl-Romanen hervor. Das ist nicht unbedingt beabsichtigt, aber auch nicht völlig fehl am Platz: Es geht nämlich auch hier um Naturwissenschaften und Literatur und da liegen formelähnliche Konstruktionen à la Jirgl nahe. Aber schlüsseln wir die Formel doch einmal der Reihe nach auf.
Ulrike Draesner (ELINAS)
Elinas steht für Erlangen Center for Literature and Natural Science, ein, wie es in der Beschreibung heißt, „interdisziplinäres Forum, das sich dem wechselseitigen Wissenstransfer zwischen Physik und Literatur widmet“. Vergangenes Wochenende veranstaltete dieses Zentrum der FAU seine Gründungstagung in der Orangerie mit Vorträgen wie The Beautiful Invisible. Creativity, Imagination and Theoratical Physics von Physikern oder „In der Blasenkammer“. Paul Celans physikalische ´Anreicherung´ von Germanisten. Außerdem las zum Abschluss Ulrike Draesner aus ihrem neuen Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt.
Verhaltensforschung (Affen+Dark matter=Mensch?)
Ulrike Draesner hat in ihren Werken mehrfach die Physik gestreift. So ist die Protagonistin ihres Romans Vorliebe beispielsweise Astrophysikerin und will in den Weltraum fliegen. In Sieben Sprünge vom Rand der Welt geht es nicht direkt um Physik, aber um Naturwissenschaften. Protagonist Eustachius Grolmann ist Verhaltensforscher und beobachtet Affen, um deren Verhalten mit dem der Menschen zu vergleichen, und seine Tochter Simone hat sich für den gleichen Beruf entschieden. Draesner ließ das Publikum bei der Lesung an Simones Ergebnissen teilhaben, als sie eine Passage aus dem Roman las, in der die Forscherin eine Vorlesung hält. Und hier erschien mit dark matter nicht nur ein Begriff aus der Physik, sondern auch eine Reflexion über die grundsätzlichen Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis:
Menschenaffen ähneln uns nicht nur in den kodierenden Gensequenzen. Was das angeht, sind wir auch extrem nahe mit Fliegen verwandt. Entscheidend ist die Orchestrierung der Bausteine. ›Dark matter‹ nennt man, was dafür zuständig ist, dark matter bestimmt, wie aus dem immer gleichen Material Fliegen oder Menschen zusammengefügt werden, oder Schimpansen. Ein Mysterium. Wir haben keine Ahnung, was geschieht.
Vertreibung und Flucht (postgenerationelle Traumatisierung+emotionale Interaktionalität)
Neben der Affenforschung behandelt der zweite große Themenkomplex des Romans Flucht und Vertreibung. Eustachius Grolmann ist 1945 bei minus 21 Grad aus Schlesien in den Westen geflohen und Simone hat Angst vor Schnee, obwohl sie zum Zeitpunkt der Flucht noch nicht auf der Welt war. Postgenerationelle Traumatisierung heißt das in der Fachsprache. Wie das mit Affenforschung verbunden werden kann? Emotionale Interaktionalität, ein Ausdruck, der spontan in der auf die Lesung folgenden Diskussion entstand, stellt eine Antwort darauf dar: Ein Grund, warum Simone denselben Beruf wie ihr Vater ergreift, ist die Tatsache, dass sie keine wirkliche Beziehung zu ihm finden kann und sie hierin sucht.
Gehirnarchitektur (multilogisches Erzählen+Biografien)
Eine weitere Antwort liegt aber wohl auch in der Gehirnarchitektur, erklärte Draesner bei der Lesung. Erinnerungen werden in verschiedenen Köpfen auf unterschiedliche Weise verknüpft, teilweise sogar falsch verbunden. Neurologisch hochinteressante Prozesse, dark matter spielt hier ebenfalls eine Rolle. Und deswegen hat sie Gehirnarchitektur auch zum Formprinzip des Romans erhoben. Zum einen im, wie sie es nennt, multilogischen Erzählen: Neun Figuren mit eigenen Logiken kommen zu Wort, verschiedene Biografien, in denen teilweise übrigens auch die Geschichte Draesners eingewoben ist, stehen nebeneinander. Es erscheint außerdem das Schicksal einer aus Ostpolen nach Wrocław vertriebenen Familie. Und als Draesner eine Stelle liest, in der Lilly, die Mutter von Eustachius, aus ihrer Sicht die Flucht schildert, kann Gehirnarchitektur zudem sprachlich nachvollzogen werden. Die Prosa scheint ins Stocken geraten, Wortfetzen werden aneinandergereiht, Lillys Erinnerung ist nicht geordnet, sie ist verwirrt. Und wenn Draesner vorher die forsche Affenforscherin gelesen hat, die fast schon ein wenig provozierend amüsiert Menschen und Affen vergleicht, dann liest sie hier, beinahe schon mit Hörspielstimme, eine Flüchtende, die Schwierigkeiten hat, ihre Sprache zu finden, sogar schon in Gedanken.
So zeigt die Autorin, wie Naturwissenschaft, Literatur und auch Emotionalität problemlos zusammengefügt werden können und wird damit der Komplexität der gesamten Tagung und der zugrundeliegenden Forschungsprojekte in ganz besonderer Weise gerecht.
Vera Podskalsky