Der iranisch-deutsche Schriftsteller Navid Kermani hat kürzlich eine vielbeachtete Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes gehalten. Prägnante und richtige Worte hat er darin gefunden. Das scheint Kermanis Qualität zu sein, denn auch auf seinen neuen Roman „Große Liebe“ trifft das zu.
„Gott ist der Liebende, der durch die Bejahung ausgelöscht wird, möchte ich auf die Gefahr hin schon wieder Ibn Arabi zitieren (und am liebsten wieder und wieder!), daß der Leser endgültig die Geduld mit meiner Geschichte verliert, die von zwei Jugendlichen in einer westdeutschen Kleinstadt Anfang der achtziger Jahre handeln sollte“ (89)
Warum sollte der Leser jedoch ungehalten sein, am Ende gar das Buch beiseitelegen? Wir können uns vorstellen, dass er der stellenweise kitschigen Geschichte nicht mehr folgen mag, wurde doch zu Beginn des Romans versprochen, dass die „Große Liebe“, die nur eine Woche gedauert habe, sich vor allem durch einen „gewisser Weise bis heute“ (38) anhaltenden Liebesschmerz auszeichnete, dem etwa die Hälfte der hundert Seiten gewidmet werden sollten. Diesem Versprechen kommt der Erzähler nicht nach, da er sich in den positiven Erinnerungen verliert und noch dazu immer häufiger wie im genannten Ausschnitt die orientalische Mystik zitiert.
Diese Verbindung ist einer der Hinweise, die darauf schließen lassen, dass hier ein autobiographischer Pakt im Sinne Lejeunes geschlossen wurde und Autor und Erzähler zumindest teilweise identisch sind. In Wahrheit verzückt uns Kermani mit der Geschichte seiner ersten Liebe, die ihm selbst so fremd ist, dass das erzählende Ich sich vom erlebenden, pubertierenden Ich insofern abgegrenzt wird, als der Erzähler in der dritten Person beschreibt und sich in der Retrospektive fortwährend „der Junge“ nennt.
Durch diesen strategisch klugen Schachzug betont Kermani das Augenzwinkernde seines Romans, der eigentlich triefen müsste vor Schnulzigkeit: Ein 15-jähriger Schüler in einer westdeutschen Kleinstadt verliebt sich ad hoc und unsterblich in eine Abiturientin, die er in der Raucherecke ausgespäht hat. Sie, die aus dem Elternhaus ausgezogen ist und in einer Wohngemeinschaft in einem besetzten Haus hinter dem Bahnhof lebt, erwidert seine Liebe. Der Erzähler kann rückblickend nur darüber spekulieren, weshalb:
„Wie gesagt ahne ich allenfalls, was der Schönsten an dem Jungen gefiel, und stützt sich schon gar die Behauptung, daß sein kindlich begeistertes und fast triumphales Glückslachen sie anrührte, auf kein Indiz, also keine Aussage von ihr, meine ich, keinen Blick, der sich mir eingeprägt hätte, keine Reaktion, die mir vor Augen stünde.“ (32)
Nachdem der Junge seine ersten sexuellen Erfahrungen mit der „Schönsten des Schulhofs“ gesammelt hat, ist die Beziehung auch schon vorbei. Der sich daran anschließende Liebesschmerz wird – wie oben angedeutet – umso heftiger erinnert. Als der Junge vor der Wohnung seiner großen Liebe wartet, immer wieder klingelt und ausharren möchte, kommt schließlich ein Mitbewohner vor die Tür getreten. Er weist ihn darauf hin, dass es keinen Sinn mehr habe, zu warten:
„Du mußt sie dir aus dem Kopf schlagen, beteuerte der Hausbesetzer […], aber der Junge schwärmte vom weichen Wasser, das den harten Stein breche, und […] schließlich gehe es um mehr als nur um persönliche Gefühle, nämlich um die Verwirklichung einer Utopie, die modellhaft wirken könne.“ (95)
Durch diese ironische Distanzierung von seinem erlebenden Ich, gelingt es Kermani authentisch und doch sehr gefühlvoll von dieser großen Liebe zu erzählen. Auch der Tagebuchcharakter des Romans trägt zur Schaffung von Authentizität bei. Die Intimität dieses Mediums wird durch die Ansprache des Lesers zwar gebrochen, andererseits ist diese Brechung wiederum als Beglaubigungsstrategie zu deuten, da der Erzähler gerade durch die empfundene Differenz zu seinem pubertierenden Alter Ego die Faktizität der Geschichte betont.
So wird das Medium auch selbst thematisiert, als es dem Erzähler am achtunddreißigsten Tag seiner Aufzeichnung geradezu peinlich ist, das Tagebuch des Jungen zu erwähnen, das, wie er schreibt, „den Ton pubertierender Selbstüberhöhung an[schlägt], der im Tagebuch dann auf beinah jeder Seite enerviert.“ (38) Eine Erkenntnis liefert dieses Tagebuch dann aber doch: „Erschreckt hat mich, wie wenig Individualität wir gerade dort an den Tag legen, wo wir selbst am entschiedensten meinen, etwas einzigartiges zu erleben.“ (38)
Diese Einsicht ist prägend für den Roman, der sich sehr bewusst dazu entscheidet, diese immergleiche Geschichte zu erzählen. Kermani gibt sich keine Mühe, das Einzigartige dieser Liebe hervorzuheben. Glaubhaft versichern zu wollen, dass sich diese große Liebe von anderen großen Lieben oder großen Lieben anderer unterscheidet, müsste ja auch scheitern. So weisen zwar die Bezüge zur orientalischen Mystik in diese Richtung, allerdings sind sie dem Jungen nicht bekannt und der Erzähler nutzt sie lediglich dazu, sich das Verhalten des Jungen irgendwie zu erklären. Häufig genug scheitert dieser Versuch jedoch: „Ich glaube […] der Junge hätte Ibn Arabi den Vogel gezeigt.“ (76)
An anderer Stelle hilft der Verweis auf die Mystik allerdings auch: „Ruzbehan Baqli hat Ende des 12. Jahrhunderts in Schiras nicht an zwei Jugendliche gedacht, die achthundert Jahre später gegen eine Stadtautobahn demonstrieren sollten“ (73) und dennoch machen dessen Worte die Gedankenwelt des Jungen für den Erzähler leichter zugänglich.
So – könnte man resümierend sagen – gelingt es Kermani eine anrührende und humorvolle Geschichte der großen Liebe zu schreiben, die aufregend neu erzählt ist, obwohl sie nichts Neues erzählt. „Große Liebe“ ist ein kluges und ehrliches Buch, das man ernst nehmen kann, weil es uns eben nicht emotional mitreißen möchte. Manchmal tut es das gerade deswegen, durch die wohldurchdachten Gedanken und die einfühlsamen Worte, die der Erzähler für seine Hauptfigur übrig hat, die ihm so fremd scheint und die er gleichsam doch ist.
Timo Sestu
Navid Kermani, Große Liebe. Roman. München: Hanser, 2014, 100 S., € 18,90, ISBN 3-446-24474-3.