Das Nichts ist extrem gefährlich. Das wusste schon Bastian Balthasar Bux. Wie gefährlich es erst werden kann, wenn es in die Hände von Jugendlichen gerät, zeigte das Gostner Hoftheater am vergangenen Dienstag in der Erlanger Garage anlässlich der Bayrischen Theatertage. Das Ensemble führte „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ auf, ein Theaterstück, das auf dem gleichnamigen Jugendroman von Janne Teller basiert. Ein absolut nicht langweiliger Abend. Nicht vorhersehbar, nicht unglaubwürdig. Aber – ist das wichtig?
Jugendliche können gefährlich werden. Das denke ich jedenfalls, als ich mitten unter etwa 50 extrem jungen Leuten stehe und mich frage, ob die sich wirklich alle mit mir in die Garage quetschen wollen. Sie wollen. Und als sie sitzen, ruft eine Lehrerin durch das ganze Theater: „Ihr habt euch zu benehmen!“ Ein bisschen ziehe auch ich den Kopf ein und überlege, ob ich ebenfalls zu laut mit meiner Sitznachbarin getuschelt habe. Briefchen schreiben geht aber nicht, dafür wird es zu schnell dunkel. Wir verstummen und ich drücke die Daumen, dass auch die Jugendlichen sich benehmen. Die Stille der ersten Szene ist einem Jungen in der ersten Reihe noch so unangenehm, dass er sein Kichern nicht richtig unterdrücken kann, und ich befürchte schon das Schlimmste. Doch dieses Ensemble weiß, was es tut, Jugendtheater scheint ihm im Blut zu liegen.
Die vorbildliche Jugend von heute
Das Eis zwischen den Darstellern und den etwas skeptischen Schülern ist schon nach den ersten, locker gespielten Sätzen gebrochen. Die folgende Stunde hängen sie förmlich an den Lippen der Schauspieler, kein Wort ist zu hören, kein Kichern, nirgends fliegen Papierkügelchen. Und ich knabbere an meinen Vorurteilen. Nie hätte ich erwartet, dass Schüler ein so angenehmes Publikum sein könnten. Aber sicher liegt das nicht ausschließlich an den Jugendlichen, es liegt auch an den Darstellern, an der Inszenierung (Regie: Silke Würzberger), am Stück. Am Berg aus Bedeutung und dem Nichts, das ihm gegenüber im Pflaumenbaum lauert.
Nichts, was an diesem Abend passiert
Pierre Anthon, gespielt von Oliver Goetschel, schreitet in sicheren Schritten über die Bühne und klettert auf eine Leiter. Hier oben erklärt er kurz und knapp, dass nichts etwas bedeute. Daher lohne es sich auch nicht, irgendetwas zu tun. Seine Mitschüler, deren Anzahl mir unklar ist, obwohl sie von nur drei Schauspielern verkörpert werden (Julia Hell, Christin Wehner und Roman Roth), fühlen sich provoziert. Sie wollen ihm das Gegenteil beweisen und Dinge sammeln, die ihnen etwas bedeuten. In Unkenntnis des Buchs klingt das für mich nach einem süßen Jugendbuchplot, auf den ich mich schon sehr gefreut habe: Eine Schulklasse findet heraus, was wirklich wichtig ist, vielleicht Liebe, Freundschaft, Hoffnung und so weiter, und am Ende freuen sich alle, dass sie leben. Doch da kannte ich Janne Teller noch nicht. Nicht sie und die wilden Diskussionen, die es um ihr Buch gibt. Nicht den Skandal, den es in Dänemark ausgelöst hat.
Eine leicht stockende Spirale
Die Jugendlichen wollen einen Berg aus Bedeutung auftürmen. Und da keiner etwas Wichtiges freiwillig aus der Hand gibt, zwingen sie sich gegenseitig: Sie fordern Bücher, Ohrringe, Sandalen als Opfer. Anfangs ist das noch relativ harmlos, doch umso größer das Opfer, desto größer die Bedeutung. Eine soll ihren Hamster abgeben, der andere seinen Gebetsteppich. Plötzlich sind die Schüler auf einem Friedhof und graben einen Bruder aus, der gerademal zwei Jahre alt geworden ist. Ein Hund wird geköpft, ein Finger abgeschnitten, eine Unschuld genommen. Dieser Berg wird stetig höher, beängstigender. Eine Gewaltspirale, die auf der Bühne aber leider manchmal ins Stocken gerät. Vielleicht liegt das an den vielen Rollen, in welche die drei Darsteller schlüpfen müssen. Zwar machen sie das meist virtuos und immer auf extrem unterhaltsame Weise, dennoch entstehen dadurch Brüche, die den Zuschauer straucheln lassen. Hin und wieder verschwinden die Figuren im Nichts, obwohl der Darsteller noch da steht. Obwohl man noch nicht ganz realisiert hat, was er gerade getan hat. Nicht immer ist einem Schauspieler auch eine Figur klar zuzuordnen. Wer ist er in den Zwischenphasen? Irgendjemand? Niemand? Nichts? Die Macht einer großen Gruppe wie die einer Klasse wird bei nur drei sichtbaren Schülern einfach nicht richtig spürbar. Zudem wechseln die Szenen manchmal zu schnell, als dass das Gesehene noch nachwirken könnte. Trotzdem bleibt es spannend – und wird immer beklemmender.
Gewaltsame Bedeutung
Irgendwann möchte ich mit Pierre Anthon im Baum sitzen und allen sagen, dass sie es lieber lassen sollen. Lieber an das Nichts glauben als an diese gewaltsame Bedeutung – oder? Ich warte darauf, dass es mir jemand erklärt. Dass Pierre Anthon vom Baum und die anderen Kinder vom Berg hinuntersteigen, um sich in der Mitte zu treffen. Vielleicht könnte ein Elternteil helfen. Ein Lehrer. Gerade so unterdrücke ich den Impuls, mich zur Lehrerin im Zuschauerraum umzudrehen. So mach doch was! Wie lautet die Lösung? Doch natürlich frage ich sie nicht, die Kinder hören keine Lösung, am Ende brennt Pierre Anthon. Was bleibt übrig?
Eine Erinnerung an ein Stück, super gespielt und höchst unterhaltsam, über das die Klasse noch lange diskutieren können wird. Eine Leerstelle, die Jugendliche wohl noch viel besser füllen können, als wir Älteren. Eine Inszenierung, die durchaus etwas bedeutet hat, die wichtig war. Aber auch der leise Zweifel. Was ist eigentlich Bedeutung? Was ist Existenz? Und was ist wichtig?
Wo ist Bastian Balthasar Bux, wenn man ihn braucht?
„Der Mensch ist als Mensch nicht zu erfassen, wenn nicht je von seiner eigenen, individuellen Existenz ausgegangen wird. Jede Wesensbestimmung enthält (…) immer schon einen Theorieaspekt, der sich nicht aus einer unmittelbaren Erfahrung der Existenz speist, sondern in der Existenz ’nachrangig‘ gebildet wird“, steht unter anderem im Flyer, der uns vorher in die Hand gedrückt wurde. Darunter: „Wenn Sie das verstanden haben und in einfachen Worten wiedergeben können, schreiben Sie bitte an info@gostner.de“.
Ich habe nicht an diese E-Mail Adresse geschrieben, ich habe ertappt gelacht. Und draußen, zurück an der frischen Luft, tief durchgeatmet, das Nichts verdrängt. Bastian Balthasar Bux ist schließlich nicht da, er nicht und auch keine Lehrerin. Zumindest wir Nicht-mehr-Schüler müssen das jetzt allein hinkriegen. Irgendwie.