Weiches Licht erhellt eine karg eingerichtete Wohnung. Im Hintergrund sind dumpfe und eintönige Maschinengeräusche zu hören. Eine Frau und ein Mann kommen herein. Sie setzen sich. Er steht auf und gießt sich einen Kaffee ein. Die Frau setzt sich und schweigt. Raucht eine Zigarette. Nach zehn Minuten fällt der erste Satz: „Wie geht es dir?“ Er lässt sich Zeit mit seiner Antwort.
Und doch kann man in jeder Sekunde einen intensiven Dialog erleben: In Blicken, Haltungen und kleinen Veränderungen im Ausdruck vollzieht sich, das merkt man schon nach kürzester Zeit, etwas Großes. Die Blicke im Publikum um mich herum sind nach anfänglichem Tuscheln schon bald starr nach vorne fixiert und folgen jeder einzelnen Bewegung. Erstaunlich, denn diese karge Art der Inszenierung steht in großem Kontrast zu unseren sonstigen Sehgewohnheiten. Es gibt hier nur das Langsame, Eindringliche. Nicht mehr und nicht weniger als die graue Stunde vor Sonnenaufgang ist zu sehen. Und doch enthüllen sich zwei komplette Leben in der wundervollen Sprache der Autorin Ágota Kristóf. Kargheit und psychologisches Spiel lassen Lebendigkeit entstehen, die fesselt. Ein guter Anfang für die neue Laboratorium- Reihe der Münchner Kammerspiele, die Zino Weys Inszenierung „Die graue Stunde“ am Freitag anlässlich der bayrischen Theatertage im Redoutensaal in Erlangen präsentierten.
Sie kennen sich seit 20 Jahren. Er ist ein Kleinkrimineller, sie eine Prostituierte. Schon seit einiger Zeit treffen sie sich nur noch zum Reden. Der Mann bezahlt dafür, dass die Frau ihm Träume erfindet, eine Fähigkeit, die er scheinbar verloren hat. Von dem Messer, mit dem er sie regelmäßig bedroht, ist sie lediglich gerührt: von der Schönheit des Griffes und der Tatsache, dass er es sich für sie aufhebt. Doch so ist die Liebe der beiden: Karg, zerstörerisch und voller Spannung. Beide haben ein hartes Leben hinter sich. Es stellt sich heraus, dass sie als Jugendliche dreifach Kinder für andere geboren hat, um sich über Wasser zu halten. Sie hat Vergewaltigungsphantasien und fragt den Mann, warum er sie noch nicht umgebracht hat. Der Mann teilt sie, soweit er sich erinnern kann, mit anderen. Zunächst scheint es einseitig zu sein: Ein Mann bezahlt ein Frau dafür, dass sie ihn unterhält. Sein Umgang mit ihr ist sehr rau, denn er ist auf eine grausame Art ehrlich mit ihr. Sie weiß, dass sie ihn nicht manipulieren kann und ist es ebenfalls. Nach der ersten Hälfte des Abends wendet sich jedoch das Spiel. Nun muss er reden. So erzählt er einiges, Gefühlvolles und Spannendes. Wie zum Beispiel, dass ein Grund für sein früheres Fernbleiben das Geld gewesen sei, ohne das er sich vor ihr geschämt hätte. Am Ende erfindet er eine harmonische, idyllische Zukunft für sie und ihn, die weit von der Realität entfernt ist. Die Frau hat Tränen in den Augen, doch sie wirkt eher verletzt als gerührt. In seiner Vision ist sie erfüllt und glücklich und führt ein normales Leben. Er sieht eine Seite in ihr, die zu sehr schmerzen würde, würde sie zum Leben erweckt. Denn für die beiden wird es nur Ungewissheit geben.
„Gegen Morgen wärst du müde und würdest nach oben gehen.
Aber du würdest keinen Schlaf finden. Du wirst das Fenster
öffnen und auf die Straße hinunterschauen. Du wirst auf
die Schritte horchen auf der Straße, im Flur. Du wirst einen
Gegenstand suchen, der dich erinnert an die Bewegung, mit
der ich meinen Mantel auszog. Aber ich habe nichts bei dir zurückgelassen.
Wenn die Sonne aufgeht, schließt du das Fenster
und legst dich hin. So immer wieder, jahrelang, Tag für Tag.“– Ágota Kristóf
Ebenso wie über die wunderbare poetische Sprache kann man nur über die Darstellung der Schauspieler staunen. Steven Scharf, der letztes Jahr als bester deutscher Theaterschauspieler ausgezeichnet wurde und den begehrten Getrud- Eysoldt- Ring trägt, schafft es, mit minimalistischem Spiel eine sehr starke Intensität zu erschaffen. Kleinste Gefühlsregungen- und bewegungen sind auch bei Sylvana Krappatsch perfektioniert. Die beiden schaffen es, eine perfekte Oberfläche herzustellen. Während dem langanhaltenden Applaus scheint es beinahe, als würde man zwei komplett andere Menschen vor sich sehen als noch kurz zuvor. In mir bleibt ein Gefühl der Trance zurück.
Die Ästhetik der Inszenierung von Zino Wey erinnert mich an ein Edward Hopper Gemälde: Man sieht die Einsamkeit zweier Individuen, die in einer kleinen Wohnung aufeinander treffen. Weiche Farben und Interieur scheinen den 60er Jahren entlehnt zu sein und unterstützen diesen Effekt. Der Raum wird von pfirsichfarbenem Licht erhellt, das an die viel zitierte Morgenröte erinnert, jedoch einer Neonröhre über der Küchenzeile entstammt. Durch das Fenster scheint ein grelles Neonlicht vom Flur herein. Als der Tag anbricht und der Mann sich zum Gehen wendet, ist es jedoch jenseits der Tür dunkel. Ist Leere vielleicht schwarz?
Anna Greger