Sind wir nicht alle ein bisschen Woyzeck? Zumindest am Anfang diesen Abends, als zehn Woyzecks mit rotunterlaufenen Augen einen polternden Arbeitertanz aufführen, könnte man das meinen. Es sind Bewegungen, mit denen wir alle auch heute etwas anfangen können: getrieben, schwer, fremd geleitet. Doch im Laufe der Coburger Woyzeck-Inszenierung, die am vergangenen Donnerstag anlässlich der Bayrischen Theatertage aufgeführt wird, wird das Bild des Gebeutelten schnell noch differenzierter.
Beim Landestheater Coburg kann Woyzeck tanzen und Marie perfekt Englisch sprechen. Ihr Baby sieht ziemlich erwachsen aus und liebt es, unter ihren Rock zu kriechen – so wie alle, wie zum Beispiel der Tambourmajor. Und obwohl sie tieftraurig und erschreckend hart aussieht, schaue ich ihr unheimlich gern beim Tanzen zu. Sie braucht kaum etwas zu sagen, ihre Körpersprache erzählt uns alles, was wir über Marie wissen müssen. Hätte das vielleicht schon gereicht? Die mit einer Rasierklinge tanzende Marie, der gehetzte Woyzeck mit seinen schweren Schritten, die albern feiernde Menge, die Woyzeck in die Weißglut treibt, der Tambourmajor, der sich hinter einer durchsichtigen Plane an Marie heranschleicht, ihr feuriger Seitensprung, ihr stumpfer, roter Blick? Vielleicht. An diesem Abend passiert aber mehr.
Fremde Zungen
Wenn sie nicht tanzen, unterhalten sich die Figuren in unterschiedlichen Sprachen: Jede redet in der Muttersprache ihres Darstellers. Woyzeck ignoriert das gekonnt, während ich immer wieder zu den Übertiteln schielen muss. Diese Sprachverwirrung treibt seine Isolation auf die Spitze. Denn diejenigen, die ebenfalls Deutsch sprechen, sind der Hauptmann, der ihn verhöhnt, der Doktor, der ihm eine Maulsperre in den Mund schiebt, und der Tambourmajor, der ihm seine Freundin ausspannt. Menschen, die ihm wirklich nahe stehen wie Marie und Andres, haben ihre eigene Sprache. Nähe kann da nicht entstehen, Missverständnisse sind vorprogrammiert, die Einsamkeit zwischen den Zeilen scheint immer greifbarer zu werden.
Woyzeck, ein Mörder
Allerdings ist dieser Woyzeck schon nach dem tänzerischen Einstieg der Woyzeck, den ich erwartet habe. Er ist nicht mehr wir alle, er schrumpft auf seine eigene Größe zusammen. Doch auch das bleibt während der ganzen Aufführung durchweg spannend und ist wunderschön anzuschauen. Am Ende bin ich traurig, dass das Stück schon vorbei ist. Dass Marie tot ist und Woyzeck ein Mörder.
Ich hätte sie gern noch länger tanzen sehen und einsam miteinander reden hören, ich hätte gern noch länger versucht, Woyzeck wirklich zu verstehen und mich zu fühlen wie er. Leider höre ich vor der Garage und im Spiegelzelt, das bei er Quiznacht vom Gewitter fast davon geweht wird, dann aber nur noch eine Sprache.