
Von links nach rechts: Volker J. Ringe, Florian S. Federl, Gerald Leiß, Iris Hochberger. Fotograph: Thomas Bachmann
Vergiss die Moral und begib dich auf Augenhöhe mit dem Universum.
Handele konsequenzlos und nimm dir was du willst.
Lüge um deine Ziele zu erreichen.
Und das Wichtigste: Mach keine Fehler.
In einer Welt voller Haifische kann nur der Gerissenste regelmäßig reißen. Wer über Leichen geht, um seine Ziele zu erreichen, dem steht nichts im Weg. Er erhält übersinnliche Fähigkeiten: Die Gabe, in die Zukunft zu sehen und diese zu beeinflussen. Die Gabe, den Status quo zu verändern und die Gabe, die Zeit anzuhalten.
Anlässlich der bayrischen Theatertage präsentierte das E.T.A.- Hoffmann Theater Bamberg am vergangenen Dienstag „Die Opferung des Gorge Mastromas“ von Dennis Kelly.
Gorge Mastromas hat 30 Jahre über seine Verhältnisse gelebt: Er hat sich mehr Moral und Tugend geleistet, als er sich eigentlich erlauben konnte. Nun ist er am Tiefpunkt angelangt: Von der unfruchtbaren Frau verlassen wegen einer Nacht mit einer anderen, die erst zu einer Schwangerschaft und darauf hin zu einer Abtreibung geführt hat. Wie schon sein ganzes Leben über ist er durch Ehrlichkeit gescheitert: Ob es die Brieftasche voller Geld war, die der kleine Gorge zurückbringt, nur um als Dieb angeklagt zu werden, oder sein gemobbter Freund, dem er zur Seite steht, nur um selber unbeliebt zu werden. Ob es das betrunkene Mädchen ist, mit dem er aus Rücksicht auf ihren desolaten Zustand nicht schläft oder die Klassenschönste, die erste große Liebe, die er ebenfalls aus Rücksicht in ihrem Moment der Schwäche verschmäht, den einzigen Moment, in dem er sie hätte haben können. Gorge bezahlt.
Unentschlossenheit und Bescheidenheit, ja Verlegenheit führt ihn letztendlich zur guten Tat. Diese Unentschlossenheit scheint angeboren. Gorge entstammt einem Liebesakt, zu dem es ohne Langeweile und Verlegenheit nicht gekommen wäre. So fragt er sich: Handele ich aus Güte oder aus Feigheit?
Alles ändert sich mit einem Deal. Eine Frau kauft die Firma seines Chefs auf: ein über hundert Jahre altes Unternehmen, das bis dato in Familienbesitz ist. Gorge, selber recht hilflos, möchte seinem Chef beistehen. Als dieser auf Toilette geht, hält die mysteriöse Frau (Gespielt von Sybille Kress) die Zeit an: Sie verschafft sich und Gorge sechs Minuten, in denen sie sich ungestört unterhalten können.
„Das Dasein ist nicht so, wie Sie es bis zu diesem Moment geglaubt haben, es ist nicht fair, es ist nicht nett, es ist nicht gerecht. Der Großteil des Universums genau genommen so kalt, dass Ihnen das Wasser in den Augen gefriert.“
Gorge erfährt von einer Geheimorganisation, die nichts weiter verbindet als unausgesprochenes Verständnis untereinander. Keine Uniform, keine Versammlungen oder irgendeine Form von Händedruck, lediglich Erkenntnis- ein Lächeln, das dem anderen mitteilt, das man auf derselben Welle treibt.
„Die anderen sind blind für die Welt, sie werden geherdet und manchmal gejagt“, offenbart die Frau mit einem teuflischen Funkeln in den Augen. Wer an so etwas wie Güte und Moral glaubt, wird am Ende an diesen leeren Begriffen scheitern, denn Materie ist grausam und kalt. All denen, die bereit sind alles zu geben, steht eine ganze Welt offen. Es gibt nur drei Prinzipien, die eingehalten werden müssen:
„Erstens: Wenn du etwas willst – nimm es dir.
Zweitens: Um dir alles zu nehmen, was du willst, brauchst du nichts weiter als absoluten Willen und die Fähigkeit, aus tiefstem Herzen zu lügen.
Drittens: Die Wirksamkeit einer Lüge wird nur beeinträchtigt, wenn dir das Ergebnis wichtig ist. Denke deshalb nie an das Ergebnis, rechne immer damit aufzufliegen, nimm jede Sekunde an, als wäre es deine letzte. Und bereue nichts, niemals, nie.“
Alles was Gorge tun muss, ist: Ja sagen. Den eigenen Chef zum Verkauf bringen, der ihn sowieso zu Rate zieht. Gorge erkennt: Güte und Feigheit sind dasselbe. Und Gorge sagt erstickt: Ja. Ab diesem Zeitpunkt dauert es nicht mehr lange, bis er seine neue Chefin feuert, sich aufschwingt und auf der Welle des falschen Erfolgs reitet. Im Lügen talentiert, ist er zudem beliebt, obwohl er Menschen und Firmen gezielt zerstört und gegeneinander ausspielt.

Von links nach rechts: Sybille Kress, Volker J. Ringe, Iris Hochberger, Florian S. Federl, Gerald Leiß. Fotograph: Thomas Bachmann
Die Moritat vom Aufstieg und Fall des Gorge Mastromas wird in einem angemessenem Rahmen präsentiert: Eine Showbühne mit Laufsteg, ein Glitzervorhang als Trennung der einen und der anderen Welt, indirektes Licht, das genauso verschleiert wirkt wie die Lügen, aus denen Gorges Leben gezimmert ist, eine Tür, aus der Schwärze fällt und aus der Gefürchtetes tritt und eine auf der anderen Seite, aus der Licht fällt und in die sich das Gute verabschiedet hat. Über die Rampe hinaus führt ein zentraler Laufsteg, denn Publikumskontakt ist wesentlich für eine Moritat. Erzählphasen wechseln mit nachgespielten Szenen aus Gorges Leben, wobei dir Umbrüche sehr überraschend und gut dargestellt werden. In einem Moment sieht man Gerald Leiß in der Rolle des Gorge Mastromas, wie er sich am Boden zerstört (und scheinbar selbstmordgefährdet) seiner Traumfrau Louisa zu Füßen wirft- um sie durch die Mitleidsnummer für sich zu gewinnen- und im nächsten Moment steht er auf, alle Tränen schlagartig abgewischt und erzählt die Geschichte in trockenstem Tonfall weiter. Phrasen werden kehrversartig wiederholt, um den Liedcharakter der Moritat zu unterstreichen: „Sind Sie schon angewidert? Sind Sie schon abgestoßen?“
Louisa (gespielt von Iris Hochberger) ist auch der Grund, weshalb Gorge am Ende doch noch scheitert. Um sie zu gewinnen vergisst er alle Vorsicht: Er zimmert sich eine Lüge zurecht, die so groß ist, dass ihre Ausmaße ihn nur verlieren lassen können. Louisa wurde als Kind von ihrem Vater missbraucht. Um sie zu erobern erscheint es Gorge nützlich, sich eine ähnliche Geschichte zurecht zu legen. „Nein Papa, bitte nicht“, heißt sein Buch, das ihm weit reichenden Erfolg beschert. Der große Firmenmogul steht endlich zu seiner Vergangenheit. In dem Buch legt Gorge seinem Vater allerlei Vergehen zur Last- mit der gewünschten Wirkung auf Louisa.
Als jedoch sein verschollener Bruder zu Besuch kommt, entwickelt sich eine prekäre Situation. Wut, Abscheu, aber auch Verzweiflung und unterdrückte Sehnsucht nach dem eigenen Bruder- ein Wechselbad der Gefühle zeigt sich in einem beeindruckenden Spiel zwischen Volker J. Ringe (als Gorge) und Gerald Leiß (als Bruder). Selbst der Mord an seinem Bruder, der gemeinsam mit einem Journalisten die Wahrheit über Gorges Vergehen enthüllen wollte, lässt Gorge nicht langfristig siegen. Denn eben jener Journalist hat sich auch Louisa mitgeteilt. Gorge ist somit allein- ein Mensch der alles hat und doch nichts. Und immer noch über seine Lügen triumphiert. Zusammengekauert sitzt er in seinem eigenen Unrat, nur das Nötigste, in einem Zimmer seiner Villa, das er kaum noch verlässt. Giftend, Cholerisch, Krank. Gorge kauert auf einer Matratze, das Gesicht weiß und staubig (Volker J. Ringe hat sich zuvor eine Schüssel Mehl darüber ausgeleert), um zu zeigen, dass dieser Mensch nun auch äußerlich verfällt.
Schließlich wird er selbst von einer Lüge geschlagen. Das Mädchen, das er damals aus Versehen geschwängert hat, hat ihn belogen, um das gemeinsame Kind alleine groß zu ziehen. Plötzlich steht Gorge vor seinem Enkel (gespielt von Florian S. Federl), einem ausgewachsenen Sozialisten, der ihn ermorden soll. Durch und durch vor Idealismus brennend ist er letztendlich unfähig zum Mord. „Ein Mann wie du, du hast dein Leben vergeudet für nichts. Es macht keinen Sinn jemanden umzubringen, der eigentlich schon tot ist.“ Die Suche nach den eigenen Wurzeln verläuft unerfreulich. Auf Gorges hilfloses Angebot „Ich kann dir die Welt zeigen. Wir sind eine Geheimorganisation, wenn wir uns sehen, erkennen wir einander“ reagiert sein Enkel mit Abscheu.
Gorges Leben wurde geopfert. Ein Lügner scheitert an einer simplen Lüge, die sein ganzes Leben hätte ändern können. Ein Mensch, der sich selbst mit übernatürlichen Kräften ausgestattet wähnte, sieht im Moment der Offenbarung sein ganzes Leben wie einen Scherz des Universums. Das Stück zeigt eine schmerzhafte Wahrheit: Gegen grenzenlosen Machthunger sind Güte und Moral nur leere Hüllen.
Anna Greger