Seit ein paar Tagen sind sie endlich veröffentlicht: die Tagebücher, die der Schweizer Schriftsteller Max Frisch in seiner Lebensphase in Berlin schrieb, nämlich Aus dem Berliner Journal, herausgeben vom Literaturwissenschaftler und Präsidenten der Max-Frisch-Stiftung, Thomas Strässle, und verlegt vom Suhrkamp Verlag. Leider hat die Stiftung nur die beiden ersten Hefte, über die Jahre 1973 und 1974 veröffentlicht (und das auch nur mit Kürzungen); die restlichen drei Hefte zu den Jahren 1975-1980 haben sie komplett weggelassen – eine fatale, aber vielleicht notwendige Kürzung.
Frisch zog 1973 nach Berlin, in der Erwartung, in dieser Stadt und in engem Kontakt mit Schriftstellern und anderen Künstlern aus Ost- und Westberlin – wie Günther Grass, Uwe Johnson, Wolf Biermann und Christa Wolf – besonders produktiv arbeiten zu können. In dieser Zeit führte er in fünf Ringbüchern ein Tagebuch: das Berliner Journal. Dieses ist ein reicher, sehr heterogener Fundus an literarischen, zeithistorischen, biographischen und anekdotischen Bemerkungen von Frisch. Wir finden Bemerkungen, Beschreibungen und Kommentare zu den kleinen Alltagserlebnissen und Treffen mit Künstlern und Verlegern aus Ost und West, wir finden Gespräche mit Johnson und Grass, wir finden depressive Beschwerden über die eigene vermeintliche Unproduktivität und Planlosigkeit bezüglich des eigenen literarischen Schaffens, wir finden kleine literarische Aphorismen, wir finden Träume und Traumdeutungen, wir finden offene und ehrliche Auseinandersetzungen mit seinem Alkoholismus, wir finden intellektuelle Beschäftigungen und subjektiv-persönliche Urteile mit und über andere Künstler und wir finden natürlich eine sehr einfühlsame sozialistische Positionierung zur deutsch-deutschen Situation in Zeiten des Kalten Krieges und des Brandt´schen Grundlagenvertrags.
All diese Aspekte drücken sich immer wieder in unterschiedlicher sprachlich-literarischer Qualität die Klinke in die Hand. Die Beschreibungen reichen von ein bis zwei Zeilen pro Eintrag bis zu sechs oder sieben Seiten-Abhandlungen. Einige deutliche Impressionen zu Frisch und seinem sozialen Umfeld erhält man durchaus: Etwa, dass er per se mit dem eigenen Schaffen unzufrieden war, sich und seine Persönlichkeit immer kritisch sah, die geteilte Stadt keineswegs genoss, aber alle Provinzialität hasste, das offen kritisierende Ostberliner Kabarett liebte („Zensur ist die Voraussetzung für gutes Kabarett“) und von anderen Künstlern sehr enttäuscht war. Er hatte sich nämlich erhofft, durch rege Kontakte mit anderen Künstlern in Berlin wertvolle literarisch-politische Diskussionen führen zu können und Inspirationen zu gewinnen. Die Tagebucheinträge sind aber oft voll davon, über welche Belanglosigkeiten etwa Grass – den er (zu Recht) generell als publizitätssüchtig, lehrmeisterhaft und banal klassifizierte – immer geredet habe.
Kürzungen, entgegen Max Frischs Willen
Durch die literarischen und tiefgehenden persönlichen Eindrücke Frischs, in dessen Gedankenwelt man mit dem Buch gut eintauchen kann, ist dieses sehr breit befächert. Das sollte es nach Frisch auch sein, der dies zum einen von Beginn an als literarisches Werk implizierte und es zum anderen aber nicht nur, wie Bertolt Brechts Arbeitsjournale, als Bericht über die eigene literarisch-dramaturgische Arbeit sah, sondern im Tagebuch dies mit Persönlichem vermischte. Überhaupt war Brecht, wie man anhand ihrer Freundschaft und den Dramen Frischs schon bemerkte, ein wichtiger Fixpunkt für Frisch, nicht nur durch die Absetzung seines Berliner Journals von Brechts Arbeitsjournal, sondern immer wieder sind auch Überlegungen zu Brecht in Ostberlin oder unironische Brechtianier-Gedanken („[D]as gesellschaftliche Gewissen ist ein Luxus“) eingebaut; Überlegungen und Gedanken, die über das ganze Buch hinwegschweben.
Da Frisch sein Journal ja als literarisches Werk intendierte, wollte er es auch veröffentlicht sehen, jedoch erst 20 Jahre nach seinem Tod, um darin Genannte nicht oder weniger zu belasten. Daher besah die Max-Frisch-Stiftung 2011 die fünf Hefte und beschloss dann heftig zu kürzen – und widersprachen damit dem testamentarischen Willen von Frisch, indem sie sein Werk verstümmelten und somit verunstalteten. Die Hefte drei bis fünf bleiben komplett unveröffentlicht, so die Stiftung im Anhang (der rund ein Viertel des Buches ausmacht), da es dort nur um Privates gehe, weshalb aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen nur die ersten beiden Hefte mit diesem Buch veröffentlicht wurden. Aber auch diese wurden aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen beschnitten – wie viel genau davon rigide zensiert wurde, ist unklar. Wahrscheinlich ließ die Rechtslage der Stiftung keine Wahl – man kann natürlich en détail nicht wissen, was warum herausgeschnitten wurde -, aber andererseits bleibt damit de facto so manche Bemerkung Frischs chiffriert und sein Werk wurde, entgegen seinem expliziten Willen, verändert, was auch nicht gerade rechtmäßig ist. Vielleicht hätte man das Journal ganz oder gar nicht veröffentlichen sollen, nicht tröpfchenweise. Dennoch können wir als Leser uns an diesem intimen und aufrichtigen literarischen Werk eines Klassikers erfreuen und zumindest das nutzen und genießen, was uns zur Verfügung gestellt wird.
Max Frisch: Aus dem Berliner Journal, herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. Gebunden, 233 Seiten, 20,00 Euro. Weitere Informationen unter http://www.suhrkamp.de/buecher/aus_dem_berliner_journal-max_frisch_42352.html
Philip J. Dingeldey