Gebannt lauschen die Zuhörer seinen Worten. Es ist der 11. November 2013. Zwei Tage zuvor jährte sich die Reichspogromnacht zum 75. Mal. Max Mannheimer kann sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden gewiss sein. Denn er – als Sohn jüdischer Eltern – schildert aus eigener Erfahrung, was in jener Nacht geschehen ist.
Synagogen brannten, Geschäfte wurden demoliert, Gebetbücher der Juden mit Füßen getreten. Mannheimers Mutter betete trotzdem, sie kannte die Gebete auswendig. Nach diesem 9. November 1938 verschlimmerte sich die Situation der Juden immer weiter, bis einige aus Deutschland flohen. Als Mannheimer 20 Jahre alt war, ging seine erste Liebe Viola nach Palästina. Er blieb bei seiner Familie. „Meine Viola, zu deutsch ‚Veilchen‘, hat mich sehr bald vergessen“, fügt er hinzu. Dann wurde er mit seiner ganzen Familie nach Theresienstadt gebracht, und von dort in einem überfüllten Zug nach Auschwitz-Birkenau.
Das Leben im Konzentrationslager
In Birkenau angekommen, mussten sich die Juden in Reihen aufstellen, Beruf, Alter und Gesundheitszustand nennen. Sie wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Max Mannheimer und sein jüngerer Bruder Edgar wurden zur Arbeit im KZ eingeteilt. Ihre Eltern waren über 50 Jahre alt und mussten zu der anderen Gruppe gehen. Sie wurden noch in derselben Nacht vergast. Später erfuhr Mannheimer, dass nach fünf Wochen nur noch er und Edgar von seiner ganzen Familie übrig waren. „Wir haben uns nicht verabschieden können.“
Im KZ mussten sie sich ausziehen. Ihre Haare wurden rasiert und ihnen wurde eine Nummer eintätowiert. Die Jacketts und Hosen, die sie anziehen sollten, waren zu dünn für den kalten Februar. Edgar bekam ein viel zu kurzes Jackett und bat um ein größeres. Das einzige, was er bekam, war ein Fausthieb ins Gesicht. Mannheimer erinnert sich, dass sie am nächsten Morgen aus den Betten getrieben wurden und sich draußen auf dem Platz aufstellen sollten. Rund um das Gelände war ein Elektrozaun, auf dem stand: „Hochspannung! Vorsicht, Lebensgefahr!“ Und er sagte zu seinem Bruder: „Edgar, du wirst sehen, wir werden Schaufeln bekommen und unser eigenes Grab schaufeln. Da wäre es besser, sich gleich an den Elektrozaun zu stellen.“ Darauf fragte Edgar: „Willst du mich allein lassen?“ Die Frage beschämte Mannheimer. Er hat seitdem nicht mehr über Selbstmord nachgedacht. An dieser Stelle macht er eine lange Pause. Es ist sehr still im Saal. Obwohl jeder Platz im Innenhof der Stadtbibliothek besetzt ist, hört man nicht einmal ein Rascheln.
Antisemitismus unter Freunden
Schließlich dürfen die Zuschauer Fragen stellen. Ob er in Auschwitz geweint habe? „Natürlich habe ich geweint“, antwortet Mannheimer. „Heimlich, unter der Decke.“ Wie er den Antisemitismus erlebt habe? Er nennt als Beispiel seine Mieter, mit denen sich seine Familie immer gut verstanden hatte. Als sie deportiert wurden, weinte das Hausmädchen. Die Mieter sagten nur: „Juden weint man nicht nach.“
Ein Schüler fragt, ob der deutschen Bevölkerung bewusst war, dass im KZ Menschen systematisch ermordet wurden. „Es wusste nur ein Teil, aber niemand glaubte es, dass die Landsleute in der Lage waren, so etwas zu tun.“ Immer wieder lockert er die ernste Stimmung mit seinem Humor auf. Auf die Frage, wie er nach alldem ein normales Leben führen konnte, antwortet er lächelnd: „Wer hat gesagt, dass ich ein normales Leben geführt habe?“ Während der Diskussion betont der 93-Jährige, wie wichtig es ihm sei, vor der Diktatur zu warnen und die Erinnerung an den Holocaust zu bewahren.
Vor der Lesung forderte Erlangens Oberbürgermeister Dr. Siegfried Balleis ebenfalls dazu auf, die Verbrechen der NS-Zeit nicht zu vergessen. Auch in Erlangen waren in der Pogromnacht Juden verhaftet und in den Innenhof des ehemaligen Rathauses gebracht worden. In ebenjenen Innenhof, in dem 75 Jahre später Max Mannheimer von den Verbrechen an den Juden erzählt.
Patricia Achter
Max Mannheimer, Marie-Luise von der Leyen: Drei Leben dtv premium
220 Seiten
ISBN 978-3-423-24953-9
2. Auflage, März 2013 14.90 €