Immunschwächen der Seele

Niemand wird bestreiten, dass Martin Walser ganz großartig über die Liebe schreiben kann. Sein neuester Roman Die Inszenierung zeigt das Böse im Wertesystem der Liebe. Es ist ein Geschichte von Kitsch und Verrat. – Eine Rezension von Timo Sestu

Walser_Die Inszenierung

Der Regisseur Augustus Baum erleidet bei den Proben zu Anton Tschechows Möwe einen Schlaganfall. Vom Krankenbett aus versucht er die Proben mittels seiner Regieassistentin Lydia fortzuführen und entwickelt währenddessen seine eigene Inszenierung von der Liebe. Versorgt wird er von der Nachtschwester Ute-Marie Wiese, der er seine Liebe gesteht. Diese ist fasziniert von der Affäre mit einem prominenten Künstler. Ute-Marie ist aber nicht die einzige. Augustus Baum liebt sie alle: Britta, Carla, Lavinia, Lydia – und natürlich seine Frau, Dr. Gerda Baum, Psychologin. „Immunschwächen der Seele“ (S. 43) nennt sie, die um all die Liebschaften ihres Mannes weiß, dessen Fehltritte. Seine Erklärungsversuche schmettert sie mit folgenden Worten ab:

„Alles, was du jetzt herunterorgelst, diese enorme Tönerei, was sich aufplustert, als sei es des Geschlechtlich-Anthropologischen letzte Weisheit, ist nichts als Lyrik zur Sex-Verklärung.“ (S. 56)

Immer im Wechsel treten Ute-Marie, Dr. Gerda und Lydia auf, und jede von ihnen wird vom zwangslüsternen Augusts umgarnt. Dabei verstrickt er sich natürlich immer weiter selbst in Widersprüche, oder ist zumindest gezwungen, sich selbst zu widersprechen. Ja, die Lüge ist Augustus als Mittel heilig, um den Schein aufrecht erhalten zu können, der den Damen so gut gefällt. Erst am Ende löst er sich aus der Verwicklung. Er will sie nun alle nicht mehr:

„Ich hätte euch beide lieben können. Ihr aber könnt nur lieben, wo ihr herrscht. So absolut herrscht, wie auf keinem anderen Feld mehr geherrscht werden darf. […] Ich müsste wieder lügen. Dich anlügen oder dich. Ich müsse sagen: Ich liebe NUR dich.“ (S. 168)

Augustus geht sogar noch einen Schritt weiter: Wahre Liebe dürfe gar nicht erwidert werden: „Nur eine nicht glücken könnende Liebe ist Liebe. Alles andere ist Kalkulation.“ (S. 172) Mit diesen Gedanken schließt der Regisseur seine Inszenierung, er legt sich zum sterben auf den Boden, die anderen Akteure treten der Reihe nach auf und zu ihm. Fast scheint es, als würden sie sich verbeugen. Der Erzähler hat nach dem ersten Kapitel auch die Fäden des Romans aus der Hand gegeben, die Geschichte treibt in den Dialogen voran, nur vereinzelt gibt es Einschübe, die aber eher an Regieanweisungen erinnern. So entsteht mit der Inszenierung im Krankenzimmer zugleich der dramatische Text, der dem Ganzen zugrunde liegt.

„Die Propagierung der Verklärung“

Augustus Baum wird zu seinem eigenen Hauptdarsteller. Als er auf die Idee kommt, sich selbst in der Möwe zu besetzen, hat er längst den Grundstein für seinen Krankenzimmer-Monolog am Ende des Romans gelegt. Der unerträgliche Frauenheld schafft sich die Bühne für seine eigene Rechtfertigung. Und irgendwie ist es zugleich auch Martin Walsers Bühne. Im ersten Kapitel heißt es nämlich: „Aber dass Augustus Baum heute zum Abenteuer Kunst gehört, darf der sagen, der hier für ihn stett, nämlich ich.“ (S. 8) Dieses Ich zieht sich daraufhin zurück und lässt seiner Figur, dem alternden Gockel, freie Bahn, lässt sie sich unmöglich machen, lässt sie verzweifeln und peinlich-schwülstig daherreden. Sicher war es ein Genuss für Walser, hier ordentlich die Kitsch-Sau rauszulassen. Gerda Baum entgegnet ihrem liebestollen Ehemann darauf genüsslich:
„[…] das ist dein Job. Die Propagierung der Verklärung. Die Übersensibilisierung erogener Zonen hat mit Liebe so viel zu tun wie der Mond mit den an ihn gerichteten Gedichten.“ (S. 54)

Was am Ende übrig bleibt, ist ein leidenschaftliches Manifest der Polygamie. „Lyrik zur Sex-Verklärung“ eben.

 
Martin Walser, Die Inszenierung. Roman. Reinbek: Rowohlt, 2013, 176 S., € 18,95, ISBN 978-3-498-07384-8.

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