Anfang 2012 hat Thomas Lehr im Erlanger Poetik-Kolleg einen Aphorismenband angekündigt. Ich habe seitdem immer mal wieder danach Ausschau gehalten und ihn nun doch erst ein Jahr nach Erscheinen entdeckt. Eine verspätete Rezension von Timo Sestu.
Größenwahn passt in die kleinste Hütte. Kurze Prozesse, so lautet der programmatische Titel. Denn Lehr geht hier nicht zimperlich vor und das ist gut so. Aphorismen sind knappe, ja knappste Erkenntnisse über die Welt. Da ist eben kein Platz für ein Abwägen oder eine zögerliche Position.
Die Welt wird nicht untergehen, und so ist sie auch nicht zu retten.
Thomas Lehr vermittelt nicht gerade eine optimistische Sicht auf die Welt und den Menschen, auch nicht auf Kunst und Kultur. Stets schwingt dabei aber auch eine untergründige Ironie mit, ein sanfter Witz. All das erkennt man schon im oben zitierten ersten Aphorismus des Bandes.
Aufgeteilt ist das Büchlein in zehn Kapitel von ganz unterschiedlichem Umfang. Sie alle stehen unter einer Überschrift, die zunächst nicht auf das darin verhandelte Thema schließen lässt. Das vierte Kapitel Traurige Tiere widmet sich etwa dem Thema Liebe und allem Zwischenmenschlichen. Auch hier überwiegt der Skeptizismus:
Wenn sie warten kann, dann wartet sie nicht nur auf dich.
Das ist aber natürlich nicht alles. Thomas Lehr ist auch der Mann für wunderschöne poetische Bilder. Und die finden sich: Sie kam mir so fremd vor, dass ich heimlich die Finger ihrer Hände zählte. Wunderschön wahr und gleichzeitig skurril – deswegen treffen die lesenswerten Gedanken Lehrs so oft. Und wirklich, diese Gedanken sind brillant verknappt: Sie erscheinen in jeder Hinsicht durchdacht und geschliffen auf ihre pure Essenz.
Wer vom Ende des Romans redet, sollte sich einen neuen kaufen.
Größen Raum nehmen Gedanken zu Kunst, Kultur und Literatur ein. Man könnte das mit gutem Gewissen als Rundumschlag bezeichnen. Nach und nach werden alle Akteure vorgebeten und ihnen wird der kurze Prozess gemacht. Leser, schlechte Autoren, Kritiker, die Literaturwissenschaft (die alte nekrophile Witwe). Pathetisch wird der Autor nur dann, wenn es um die Kunst selbst geht, und vor allem um das Medium in dem sich der Romancier Lehr am liebsten äußert: […] nur der Roman wird übrigbleiben, nur die Kunst überlebt. Und deswegen wird die Kunst, die […] den Menschen in das Geheimnis [zurückführt], das ihn lebt auch wortmächtig verteidigt.
Es ist nicht einfach etwas zu einer so heterogenen Textsammlung sagen. Die beste Nachricht ist vielleicht die: Das alles ist nicht nur sehr klug, sondern auch noch hochgradig zitierfähig! Für alle, die ihre Facebook-Statusnachrichten aufmöbeln wollen oder immer ein Bonmot auf den Lippen zu tragen wünschen. Und natürlich für diejenigen, die sich den Kopf an den hochkomplexen Aphorismen zerbrechen möchten, die darauf erpicht sind, verborgene Nuancen zu bergen. Ein Buch für alle, die quer denken. Wobei: Quer denken? Zu dem heutigen Brei?
Thomas Lehr, Größenwahn passt in die kleinste Hütte. Kurze Prozesse. München: Hanser, 2012, 106 S., € 12,90, ISBN 3-446-23983-9 .
Timo Sestu