Heilige oder Monster?

 

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Foto: Gert Kiermeyer

 

„Meine Kältekammer“ – eine Inszenierung des Puppentheaters Halle

 

Plötzlich ein Lichtkegel, in dem eine Novizin steht. Sie möchte Nonne werden. Sie möchte glauben können. Doch sie wird abgewiesen. Dunkelheit. Unter einer Stehlampe beginnt ein Angestellter des Supermarkts, eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte von Estelle. Er betont, dass sie reine Fiktion sei. Am Anfang lacht das Publikum noch darüber.

 

 

Das Lachen bleibt vielen irgendwann im Hals stecken, denn die geheimnisvolle, düstere Inszenierung von Joël Pommerat und Christoph Werner zieht das Publikum in ihren Bann. Estelle, die großherzige, aufopfernde junge Frau, schimmert zwischen den Mitarbeitern des Supermarkts wie eine Perle. Einer Kollegin leiht sie Geld, von anderen Kollegen übernimmt sie die Sonntagsschicht. Während alle sich über ihren ausbeuterischen Chef Mr. Blocq beklagen, ist sie die einzige, die sogar in ihm etwas Gutes sieht: „Es sind die Gedanken in seinem Kopf, die schlecht sind. Er selbst ist nicht schlecht.“

 

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Foto: Gert Kiermeyer

Eine Person, zwei Seiten

 

Eine abrupte Veränderung tritt ein, als Blocq schwer erkrankt – und das Personal zu den Eigentümern seiner Geschäfte macht. Von nun an arbeiten sie noch unzufriedener, länger, härter. Und Blocq erwartet von ihnen ein Theaterstück ihm zu Ehren. Estelles Begeisterung für das Projekt ist mindestens so groß wie die Ablehnung ihrer Kollegen. Nun zeigt sie ihre dunkle Seite. Als Mann verkleidet beschimpft und bedroht sie andere Menschen, um ihr Ziel zu erreichen. Eine Person, zwei Seiten – wie Shen Te in Bertolt Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“. Ihren Kollegen ist sie unheimlich. Ist sie eine Heilige oder ein Monster?

 

Es ist eine Inszenierung, die den Zuschauern schonungslos den grauen Alltag vor Augen führt. Die aufdeckt, wie der Kapitalismus Menschen verändert. Es ist auch eine Inszenierung, in die surreale und zugleich wunderschöne Bilder gestreut sind, wie der Sternenhimmel in einem Planetarium. So wird die hässliche Realität von dem außergewöhnlichen Bühnenbild verhüllt. Bemerkenswert sind auch die Puppen, die realen Menschen zum Verwechseln ähnlich sehen. Mit dieser Ähnlichkeit spielen die Darsteller: Sie sind gleichzeitig Puppenspieler und Schauspieler. So kann es sein, dass statt einer Puppe auf einmal ein Schauspieler auf der Bühne steht, der ihr bis aufs Haar gleicht. Das funktioniert nur, weil zwischen den einzelnen Szenen die Bühne in Dunkelheit gehüllt wird und dann … plötzlich ein Lichtkegel.

 

 

Patricia Achter

 

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