Wissen Sie wer Serge Karrefax ist? Nein? Dann empfiehlt es sich, hier weiter zu lesen. Alternativ könnten Sie sich das Buch, nämlich „K“ von Tom McCarthy, auch kaufen ohne die folgenden Zeilen zu lesen, Sie würden es nicht bereuen. Aber wenn Sie diesen Artikel nun schon mal angeklickt haben…
Also: Serge Karrefax wird 1898 als Sohn des Erfinders Simon Karrefax auf dem ausladenden Landgut Versoie geboren, was mehr oder weniger nebenbei passiert, denn der Vater, der in erster Linie tauben Kindern Möglichkeiten zu kommunizieren lehrt, ist gerade damit beschäftigt, das Wettrennen um die Erfindung des Telegraphen zu verlieren. Auf seinem Kopf trägt Serge eine Fruchtblase, was ihm laut Volksmund Glück verheißen soll. Das aufgeweckte Kind ist ebenso wissenschaftseuphorisch wie der Vater, und teilt diese Vorliebe auch mit seiner älteren, hochbegabten Schwester Sophie, mit er ein Verhältnis pflegt, welches normale Geschwisterliebe bei weitem zu übersteigen scheint.
Früh erliegt Serge dabei dem Fortschritt verheißenden Zauber der aufkommenden Kommunikationsmöglichkeiten, die ihm auf den Stationen seines Lebens immer wieder begegnen werden: Ob als melancholischer Heranwachsender im böhmischen Heilbad Klodebrady, als Mitglied der Royal Airforce während der Luftschlachten des ersten Weltkriegs, als drogensüchtiger Teilnehmer spiritistischer Sitzungen im swingenden London der frühen 20er-Jahre, und als Agent, der für das britische Empire die Möglichkeiten für den Bau eines Kommunikationsnetzes in Ägypten ausloten soll – beständig rauschen, klicken und sirren die Verbindungen, so dass das Serge sich immer mehr darin zu verlieren droht…
Tom McCarthy, in der englischen Literaturszene bereits seit seinem Debüt „8 1/2 Millionen“ ein Star, erzählt die Lebensgeschichte Serges als klassischen Bildungsroman in der Tradition von Joyces „Porträt des Künstlers“, lässt seinen Protagonisten eine mit Höhen und Tiefen gespickte Biographie durchlaufen, während er zugleich in sorgsam geschliffenem Präsens das unaufhörliche Vibrieren des Erfindungsgeistes der Jahrhundertwende einfängt, ohne dabei je in Verdacht zu geraten, einen historischen Roman abzuliefern.
McCarthys Roman veranschaulicht nämlich nicht nur den historischen Siegeszug moderner Kommunikation, sondern umspannt sich, gleich den Kommunikationsnetzen, die langsam den Globus umschnüren, auch selbst: Wie Funkwellen den Äther durchqueren hier immer wiederkehrende Motive die verschiedenen Handlungstableaus, wirken manchmal so rein wie ein klares Signal, und manchmal wie verrauschte Interferenzen, deren Bedeutung im Vagen bleibt und kaum erschlossen werden kann.
So taucht die Fruchtblase, jene Glückskappe, etwa in Form des Fallschirms wieder auf, in dem sich das abstürzende Flugzeug Serges verheddert, was Letzterem das Leben rettet – zugleich verweist der Fallschirm aber auch auf die Seide, welche seine Mutter im heimatlichen Landgut zu ernten und zu vertreiben pflegt, Seide, die wiederum sinnbildlich für all die feinen Kommunikationsfäden steht, die mehr und mehr die Welt einhüllen; der Seidenstrumpf seiner Geliebten, den Serge in genau jenem Moment des Absturzes über dem Kopf gestülpt trägt, bezieht indes gleich beides nochmal mit ein: In „K“ sind Kommunikationsgenese und freud’scher Mutterkomplex Teil des selben motivischen Bezugssystems.
Gleichsam erscheinen im Buch, als weiteres verknüpfendes Element zwischen den streng voneinander abgetrennten Settings, immer wieder kompliziert verzweigte Tunnelsysteme, unterirdische Gänge und Höhlen: In erster Linie sicherlich eine weitere Metapher für das Verbindende als zentrale Eigenschaft der Kommunikation, aber eben gleichzeitig auch Sinnbild der labyrinthischen Architektur des Romans selbst, der andauernd falsche Fährten legt und den Leser immer tiefer in seinen Irrgarten lockt. Es ist durchaus möglich, sich in „K“ zu verlieren, was angesichts der nüchternen Bildungsromanstruktur und der scheinbaren Geradlinigkeit der Erzählung ein verblüffendes Kunststück ist.
Auf einer anderen Frequenz funken schließlich in gleicher Manier endlose Bezüge, Zitate und Verweise durch „K“, erzeugen Echos von Thomas Mann und Kafka, Joyce und Dickens, Pynchon und Hergé und mutmaßlich ein Dutzend weiterer literarischer Referenzpunkte: Wer will, kann zum Beispiel in Serges finalem Delirium, in dem dieser sich unversehens in ein gewaltiges Ungeziefer verwandelt sieht und durch eine abseitige Fieberhalluzination tappt, gleichzeitig Reminiszenzen an Franz Kafka und William S. Burroughs herauslesen, die McCarthy grandios sowohl für seinen Handlungsbogen als auch seine Motive einspannt und sich so geschickt zu eigen macht.
So wird aus dem nun insektoiden Serge Karrefax, der seine Fühler mit seiner Umwelt vernetzt, am Ende tatsächlich so etwas wie die Vorwegnahme des zeitgenössischen Homo Digitalis:
Serge sieht sich mit allem verbunden, mit jedem nur denkbaren Ort. Signale wirbeln über den Himmel, rasen durch die Zeit wie Materiesplitter, Materiepartikel, sichtbar und solide.
„K“ ist kühl und kühn, ein postmodernes, bis ins letzte Detail aufgeladenes Kabinettsstückchen voll sprachlicher Finesse; virtuos arrangiert und komponiert, geschrieben von einem belesenen, hochgradig analytischen Autor, in dessen Erzählkonstruktion alles an seinem Platz sitzt und nichts ohne Bedeutung bleibt. Eine Maschine, die, blickt man unter ihre glänzende Oberfläche eine ungeheuer komplizierte Mechanik offenbart.
Tom McCarthy: K
DVA Verlag (ISBN: 978-3-421-04489-1)
24,- Euro
Manuel Weißhaar