„Ich, Atar Gull, werde niemals weinen.“
Der Sklavenhandel des Kolonialzeitalters gehört zu den finstersten Kapiteln der Menschheitsgeschichte. Über mehrere Jahrhunderte hinweg spannten sich die globalen Handelsnetze der führenden Weltmächte von den Küsten Afrikas bis zu den Sklavenmärkten der Heimat; ein schmutziges, aber ertragreiches Geschäft für die Männer, die Familien und Stämme zerrissen, um der stetigen Nachfrage nach Menschenmaterial nachzukommen und jene, die mittels Sklavenarbeit erfolgreich ihre Plantagen bewirtschafteten. Der französische Schriftsteller und spätere engagierte Sozialist Eugène Sue widmete sich in seinem 1831 erschienenen Abenteuerroman „Atar Gull“ dieser Thematik, der nun von Comicautor Fabien Nury und seinem Zeichner Brüno unter dem Titel „Atar Gull oder das Schicksal eines vorbildlichen Sklaven“ frei adaptiert worden ist.
Atar Gull, seines Zeichens hünenhafter Häuptling der „kleinen Namaquas“, wird zusammen mit weiteren Mitgliedern seines Stammes vom König der mit ihnen im Krieg liegenden „großen Namaquas“ über einen holländischen Zwischenhändler an den alternden Sklavenhändler Benoit verkauft, einen gutmütigen Mann mit Prinzipien, der sich der Verwerflichkeit seiner Tätigkeit bewusst ist und nichts anderes ersehnt, als in die Heimat zu Frau und Kind zurückzukehren – ein Wunsch, der ihm verwehrt bleibt, denn sein Schiff, die Catherine, wird auf dem Rückweg von Piraten aufgebracht, deren Kapitän sich als wahrhaft teuflische Gestalt entpuppt.
In diesem ersten Teil des Bandes, Der Überfahrt begegnet der Leser dem eigentlichen Protagonisten kaum, Atar Gull vegetiert stoisch und schweigsam im Laderaum des Sklavenschiffes vor sich hin; erbärmliche hygienische Bedingungen, Wassermangel und Krankheiten machen ihm und den anderen Verschleppten zu schaffen. Der eigentliche Mittelpunkt der Geschichte liegt zunächst auf der Begegnung des als weitgehend integer dargestellten Kapitän Benoit mit seinem nihilistischen Gegenpart Brulard, der seine verrottete Piratenbande mit kalter Grausamkeit anführt und dem anderen schnell klarmacht, dass in diesem Geschäft am Ende nur jene überleben, die völlig frei von Moral und Prinzipien agieren. Nury und Brüno nutzen hier die Vorzüge des Bildmediums Comic auf großartige Weise: Die Figur Brulards bekommt bei ihrem ersten Auftritt durch den Einsatz von tiefen Rottönen und Schatteneffekten (die Figur wird während der gesamten Geschichte nie wirklich aus diesen Schatten heraustreten, egal wie hell die Sonne zu brennen scheint) einen geradezu mythischen Charakter, und schnell wird klar, dass es sich hier um eine Art von Abenteuergeschichte handelt, die dem apokalyptischen Ton von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ deutlich näher ist als jeglicher erbaulicher Seefahrerromantik.
Nach und nach verschiebt sich der Fokus von „Atar Gull“ schließlich auf den dunklen, dämonischen Brulard, der durch seine Verbrechen die Aufmerksamkeit der britischen Marine auf sich gezogen hat und versucht, sich seine Verfolger mit List und grausigem Geschick vom Hals zu halten – nebenher ergeht er sich in düsteren, in roten Farben getränkten Visionen, welche ihm seine Opiumpfeife verschafft, und fast könnte man meinen, als sei die Figur nur hier vollends bei sich selbst, als sei dies die Wirklichkeit, die einzig würdige Wirklichkeit, und all das Verderben und Sterben in Brulards Wachzustand der eigentliche Traum. Atar Gull selbst bleibt auch hier weitestgehend im Hintergrund, lediglich bei einem erniedrigen Zusammentreffen mit Brulard erfährt der Leser etwas über das Wesen des Häuptlings, denn der lernt schnell, dass es für ihn als Sklaven nur einen Weg gibt, um zu überleben: Durch Anbiederung bei und Demütigung vor seinem Herren.
Im zweiten Teil des Bandes, Die Plantage, wird der Mandingo, wie Atar Gull überall genannt wird, schließlich zunehmend selbst zum Protagonisten der nach ihm benannten Geschichte, er erkämpft sich diese Position similar zu seinem Aufstieg innerhalb der Handlung, wo er vom einfachen Arbeiter auf einer jamaikanischen Zuckerrohrplantage zum persönlichen Diener seines Herrn, dem gutmütigen und moralgebundenen Plantagenbesitzer Tom Will, wird. Will, der darauf bedacht ist, seine Sklaven mit Achtung zu behandeln und sich selbst als Humanisten zu bezeichnen, trifft, der rationalen Geschäftslogik unterworfen, allerdings eine fatale Fehlentscheidung, zieht so den Zorn seines Lieblingssklaven auf sich – und setzt damit eine Gewaltspirale in Gange, bei der es am Ende keine Sieger geben wird.
Ist der Leser sich in der ersten Hälfte des Bandes noch relativ klar darüber, wem seine Sympathie zu gelten hat, verschwimmt diese Sicherheit zum Ende der Geschichte hin ob all der Grausamkeiten, die von statten gehen, zusehends. Atar Gulls Rachsucht fegt erbarmungslos über seinen Besitzer hinweg, der sich wie Hiob unfassbaren Schicksalsschlägen ausgesetzt sieht und nie in Betracht zieht, wer die direkte Verantwortung an dem Unheil tragen, und welche Rolle sein eigenes Verhalten darin spielen könnte. Atar Gull selbst jedoch bleibt auf eine perfide Weise dennoch das, als was ihn der Titel des Bandes ausweist: Ein vorbildlicher Sklave.
Und am Schluss dieser tragischen, düsteren und grandios bebilderten Geschichte, steht eine fast biblische Erkenntnis; nämlich die, dass ein jeder Mensch für die Taten die er begeht, Verantwortung zu tragen hat – und bezahlen muss, auf die ein oder andere Weise.
Ja, „Atar Gull“ mag eine Abenteuergeschichte sein. Aber es ist eine Abenteuergeschichte ohne Helden, und ohne Hoffnung.
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Fabien Nury, Brüno: Atar Gull oder das Schicksal eines vorbildlichen Sklaven
avant-verlag (ISBN: 978-3-939080-65-7)
19,95,- Euro
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Manuel Weißhaar