Die Platte springt. Die Nadel setzt immer wieder von neuem an der selben Stelle an, kratzt über schwarzes Vinyl, und spielt die immer gleiche Melodie, das immer gleiche Riff, den immer gleichen Song. Irgendwann ist der Popmusik zwischen all den zeitgleich abgespulten Revivals der Sounds, Styles und Bilder längst vergangener Zeiten, zwischen Nostalgie, Retrowahn und Sentimentalität, scheinbar die Zukunft abhanden gekommen. Diese These hat der britische Popkritiker und Musikjournalist Simon Reynolds in seinem breit rezipierten und mitunter als „vielleicht wichtigster Beitrag zum popkulturellen Diskurs der Nullerjahre“ (INTRO) bezeichneten Sachbuch Retromania – Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann, aufgestellt. Pünktlich zur Erscheinung der deutschsprachigen Übersetzung ist der Autor zusammen mit seinem Übersetzer Chris Wilpert auf Lesereise durch Deutschland unterwegs, wo er auch im K4 in Nürnberg Station machte.
Nur ein kurzer Blick auf die beiden wohl meist erwarteten Alben des Jahres 2012 verdeutlicht dabei, dass Reynolds Argumentation seit der Veröffentlichung der englischen Ausgabe im vorherigen Jahr in keinster Weise an Aktualität und Brisanz eingebüßt hat. Nicht nur, dass Coexist von The XX sich ausgiebig bei Post-Punk und New Wave der frühen 80er bedient, und der klerikale Stadionfolk von Mumford & Sons Wurzeln hat, die mitunter sogar noch bis zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus reichen: Beide sind zudem lediglich eine leicht modifizierte Variation von Revivaltrends, die sich bereits innerhalb des letzten Jahrzehnts herauskristallisierten – The XX versehen den Sound von Post-Punk-Adepten wie Interpol mit Leerstellen, Entschleunigung und einer Prise R’n’B, Mumford & Sons überführen den Neofolk der 00er ins Stadionformat. Etwas genuin Neues, dass sich von den Einflüssen seiner Vorbilder langsam loslöst und Eigenständiges entstehen lässt, scheint nicht in Sicht. Symptomatisch für die Retrophilie, sagt Reynolds, die die vergangene Dekade fest im Griff gehabt habe.
Ob Post-Punk-Revival, Synthpop-Revival, Garagenrock-Revival, Neo-Soul, Neo-Psychedelia, Neofolk, Freakfolk oder Goth-Revival (eine Liste, die nahezu endlos fortzuführen wäre) – Pop in den 00ern, insbesondere Popmusik, so Reynolds, erschöpft sich im endlosen Wühlen durch digitale Archivkisten. Zahllose Mikrotrends entstehen aus dem schlichten Plagiieren alter Ästhetiken oder dem freien Kombinieren vergangener Stile, deren Codes und Bedeutungen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und ironisch gebrochen werden. Das Ergebnis ist Popmusik, die ihre Fähigkeit, das Jetzt einzufangen und ihm seinen unverkennbaren Stempel aufzudrücken, verloren hat. 2012 klingt, wie Reynolds betont, kaum signifikant anders wie etwa 2004, während im Goldenen Zeitalter des Pop, den 60er-und 70er-Jahren, ästhetischer (und kultureller) Wandel sogar zwischen 1968 und 1969 deutlich feststellbar gewesen sei.
Es bleibt ein unübersichtliches Nebeneinander und Durcheinander an kurzlebigen, und letztlich substanzlosen Hypes, ewiges Reenactment, endloses Entstauben vergangener künstlerischer Innovationen, deren einziger Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit die permanente Verfügbarkeit von alles und jedem ist – jene Verheißung von den unbegrenzten Möglichkeiten des Digitalzeitalters, die immer mehr einer apathischen Leere gleicht.
In seinem Vortrag an diesem Abend bezichtigt Reynolds etwas provokant nicht nur ein gesamtes musikalisches Jahrzehnt der popkulturellen Bedeutungslosigkeit: Er setzt sich auch mit den Reaktionen auf die englische Erstausgabe von „Retromania“ auseinander und beschäftigt sich mit der weitverbreiteten These von Künstlern, Theoretikern, Kritikern, dass Aneignung und Zitat, die Kultur des Mash-Ups, Samplings und Remixes, schon immer im kreativen Prozess angelegt waren. Reynolds sieht in dieser Strömung der Poptheorie ein Symptom der digitalen Revolution, in welcher der Einzelkünstler zugunsten des Schwarmkollektivs abgedankt hat und nur noch eine Art Filter darstellt, durch den immer da gewesene Einflüsse gebündelt und in brauchbare Form gebracht werden. Die Fähigkeit, Originäres zu schaffen, wird dem Künstler dabei per se abgesprochen – Alles ist ein Plagiat, alles ist ein Remix – Originalität und Innovation sind also bloße Mythen, allem Neuen ist das Alte schon inhärent.
Man merkt Reynolds an, wie sehr er mit diesem weit verbreiteten Theorieansatz, der recreativity, hadert; die Vorstellung eines Input/Output-Künstlers lässt für ihn den Künstler als individuellen Menschen, dessen eigene Erlebnisse, Eigenschaften, Sehnsüchte und Ängste in sein Werk mit einfließen, zu sehr außer Acht. Rather depressing sei das alles, findet er, vor allem, wenn diejenigen Künstler, die noch fest an Innovation und Erneuerung glauben, von jenen als gestrig verlacht werden, die in recreativity ein sehr viel zeitgenössischeres, hipperes Konzept sehen. In Letzterem sieht Reynolds am Ende dann auch nur eine Ausrede, um die Angst zu übertünchen, dem Vergangenen nichts mehr hinzufügen zu können – und gleichzeitig eine Möglichkeit, die alten Helden zu entmythologisieren: Denn die haben ja nach der „Alles ist ein Remix“-Logik schließlich auch nur geklaut.
Diese apologetische Abneigung gegen das Außergewöhnliche, das Genialische, ist Reynolds besonders zuwider. Sicher beziehe jeder Künstler seine Einflüsse von irgendwoher, borge und stehle, wichtig sei aber, das Erhaltene zu etwas Neuem zu transformieren – und dass das möglich sei, hätten die letzten sechzig Jahre der Popgeschichte zu Genüge bewiesen. Allerdings müsste man dem Künstler dann zugestehen, vielleicht doch mehr zu sein als die Summe seiner Einflüsse.
Gegen Ende seines Vortrags spielt der Autor, selbst Post-Punk-Liebhaber, dann noch den letzten Song der Talking Heads-Platte „Fear of Music“ von 1979 ab, die er als leuchtendes Beispiel für die Selbsterneuerungskraft des Pop anführt, an die er, obwohl selbsternannter Pessimist, allen Widrigkeiten zum Trotz noch immer fest glauben will. Und scheint, während er der arhythmisch stampfenden Drummachine und dem grellen Gesang David Byrnes lauscht, fast selbst ein wenig nostalgisch zu werden.
Das ist eine geheime Botschaft!
Kannst du sie lesen?
Manuel Weißhaar