Das ist eine vollständige Rezension und ein fragmentarisches Essay (ausgehend von dem rezensierten Buch). Wer das Buch liest, wird mich verstehen. Wer erstklassigen Journalismus erwartet, wird vermutlich weniger Verständnis aufbringen.
Plaque 02 erschien 2007. Die Inhalte sind heute noch wichtig.
Was macht den Comic als Medium aus? Dieser Frage nähert sich Horus (Comicauthor und Schriftsteller) in Abgrenzung zu der These: der Comic geht dem Untergang entgegen. Das Essay „Im Comic erweckt“ erörtert die unbegrenzten Möglichkeiten und die potenziellen Wirkungskreise des Comics, sowie den aktuellen Stand der Comic-Theorie (dabei nähert er sich der Kunst als solcher). Der Autor hat dabei ein außergewöhnlich klaren Blick auf die Probleme der heutigen Kunstauffassung. Warum? Man redet sich ein, Neues kann nicht mehr entstehen (paradoxerweise wünscht man sich gleichzeitig Veränderung), man meint maximal, das Vorhandene neu anordnen zu können. Wenige haben den Mut, äußere Grenzen abzutasten, in Abgründe zu schauen, radikal zu sein, sich nicht den gängigen Mustern unterzuordnen (dabei gibt es einige Künstler, bei denen die Abgrenzung vom Mainstream zum Selbstzweck wird, was logischerweise eine ganz eigene Problematik hat: Es wird berechnend mit Ursache und Wirkung gespielt: Die provozierten Reaktionen befassen sich selten mit dem Inhalt, es geht nur noch um die verletzten Konventionen: Eine Haltung größtmöglicher Bequemlichkeit, die niemandem hilft. Außerdem ist auch das eine Auseinandersetzung mit Trend. In Abgrenzung dazu kann mutige, neue Kunst auch populär sein, die Popularität ist dabei aber kein Selbstzweck, sondern Nebenerfolg). Vielleicht hat sich der Comic seit 2007 gewandelt, aber Horus versucht, unsere Epoche in ihrer Eigenart zu begreifen:
„Die Frage um die Zukunft eines Mediums erschließt sich nicht im Blick auf die Innovationsfähigkeit des massenwirksamen Mainstream sondern in der Untersuchung, ob ein Medium noch eine konstruktive Avantgarde hat, ob außerhalb kommerzieller Belange noch weiterführende Wege gegangen und unentdeckte Territorien erkundet werden, ob man sich an den Grenzen abmüht.“
Darin steckt eine berechtigte Wut über Engstirnigkeit.* Gleichzeit hält sich Horus mit Anschuldigungen zurück, kreditiert diverse Meinungen, verlangt aber, dass sich die Praxis und vor allem die Wirklichkeit nicht Theorien unterordnen muss. Tatsächlich steckt hier ein große Gefahr für die Kunst. Eine Theorie kann nie der Wirklichkeit gerecht werden, kann nie die Zukunft bestimmen, sie kann einen Status Quo erklären, dessen Aufbruch sofort möglich ist.
Jedes Medium sollte sich davon abgrenzen. Horus geht es natürlich primär um den Comic, dessen immense Möglichkeiten gerade erahnt werden:
„Die Bilder müssen sich aufeinander beziehen und aufeinander verweisen; so ensteht eine Geschichte (obwohl auch die nicht unbedingt nötig ist, damit ein Comic entsteht). Und die Elemente des Textes müssen sich aufeinander beziehen. Und schließlich müssen sich Text und Bilder aufeinander beziehen. Indem sich Elemente aufeinander beziehen, streben sie nach dem Flirren dazwischen, das Alles in seinem Sinn aufleuchten lässt. Dies ist ein Streben nach Bedeutung. In dieser Referenzialität liegt auch der Kern zu etwas, das dem Wesen der Lyrik sehr ähnlich ist.“
Das Streben nach Bedeutung ist eine notwendige Sache und unausweichlich, wenn man etwas Sinnvolles schaffen möchte. Als Künstler muss man sich dazu bekennen: Das ist nicht arrogant oder abgehoben. Wer abstreitet, etwas Bedeutendes schaffen zu wollen, ist kein Künstler sondern ein Feigling. Wer sich selbst einschränkt, ist bequem. Es ist traurig, dass man in dieser Epoche zur Avantgarde gehört, nur weil man die Meinung vertritt, in der Kunst ist mehr möglich als das Existente. Es ist traurig, dass man in dieser Epoche ein Pionier ist, wenn man nach Neuem sucht und sich nicht damit zufrieden gibt, Altes neu zusammen zu setzen.
Jeder Künstler und Konsument, der nicht in die Repeattaste immigriert ist, kann froh sein, dass der Avant-Verlag solche Essays veröffentlicht. Jeder Suchende und Interessierte kann froh sein, dass es Anthologien wie Plaque gibt, die sich nicht zufrieden geben mit allem, was wir in der Bahnhofsbuchhandlung finden können. Da gibt es glücklicherweise Menschen, die sich bemühen, die gegen den natürlichen Widerstand des dösenden Mainstreams eigene Projekte angehen, die nach Bedeutung streben. Eine Bedeutung, die nicht sofort belohnt wird, eine Bedeutung, deren Wirkung nicht überschwänglich kreditiert wird, eine Bedeutung, die sich am eigenen Anspruch misst und nicht für den Kommerz produziert. Eine Bedeutung, die von den Wachen erkannt wird, in dieser Zeit der Traumatisierten.
Nach dieser eigenartigen Einleitung kurz zum weiteren Inhalt: Mittlerweile dürfte klar sein, dass dieses Buch ein seltener Fund ist und unbedingt gekauft werden sollte.
David B.** ist mit der Erzählung „Die Ereignisse der Nacht“ vertreten. Der Protagonist und Erzähler verliert sich in Träumen und Büchern. Eine lakonische und witzige Abhandlung in einer fantastischen Welt, gespickt mit zahlreichen Verweisen und Anspielungen. Unbedingt zu empfehlen.
Ein weiteres Highlight ist „Die Gorillafrau“ von Ulli Lust. Im Umfeld einer Revue im 19. Jahrhundert erzählt sie von Julia Pastrana, „der hässlichsten Frau der Welt“, die trotz enormer Selbstzweifel schließlich Liebe findet. Allerdings bleibt man nach dem erschreckenden Ende etwas ratlos zurück, weil es wohl in Opposition zu dem Erfahrenen steht.
„Hawaii“ von Matt Broersma erzählt von dem paranoiden Journalisten Tobias Grimm, der sich enorm wichtig fühlt und zwischen aufgesetzter anti-Haltung und verstörter Attitüde pendelt. Auch hier erfährt man von den vagen Orten der Interzonen zwischen Wahrheit und Fantasie, von Flucht und davon, eingeholt zu werden. Als alles zu viel wird, entschließt sich Tobias Grimm ein Gangster zu werden: „Die Unterwelt ist jetzt mein Leben, Freddy! Nachtclubs, Neonlicht, große Knarren, bestechliche Postboten.“ Eine Story, die den Geist von Hunter S. Thompson beinhaltet. Ein Journalist, der sich in seinen eigenen Wahnvorstellungen verliert. Großartig und verstörend.
Der Band Plaque 02 ist großteils in schwarz/weiß gehalten. Die einzige Ausnahme ist die Erzählung „Die Überfahrt“ von Anke Feuchtenberger. Mit ihr führten die Herausgeber Johann Ulrich und Kai Pfeiffer ein ausführliches Interview, das ebenfalls im Buch zu finden ist.
Bedeutend ist diese Anthologie durch die Wahrhaftigkeit und den Mut, der in Horus‘ Essay gefordert wird. Außerdem verlieren die Inhalte nicht an Bedeutung und fünf Jahre nach erscheinen kann man sagen, dass hier etwas mit Gehalt gemacht wurde.
Plaque 02 – Magazin für Wort und Bild, erschienen 2007, Avant-Verlag, 16,95€
Joshua Groß
* Eine Assoziation: Reich-Ranicki sagte 1984 beim Bachmannpreis über den Text von Jörg Fauser: „Mit Kunst hat das nichts zu tun.“ Eine der lächerlichsten und bezeichnensten Aussagen, die den deutschen Literaturbetrieb bislang heimsuchten.
** Beim Comic Salon 2012 in Erlangen hatte er eine eigene, eindrucksvolle Ausstellung. Man entdeckte dabei einen Künstler, der versucht, Abgründe zu verstehen, der versucht, das Unsagbare zu illustrieren und zu erklären, ein Künstler, der deutet und hinterfragt. Ein Mensch, der das alles tut, um bleiben zu können, wer er sein will, ohne sich von der Realität abwenden zu müssen, ohne zu umkreisen, sondern das Zentrum annehmen zu können wie es ist. Gleichzeitig zeigt sich die Notwendigkeit des künstlerischen Prozesses (in Abgrenzung und Ergänzung zu dem Menschen) vor allem auf einer Texttafel: „Obschon David B. ein friedliebender Mensch ohne militaristische Neigungen ist, zeichnet er bis heute mit einer besonderen Vorliebe hektische Gemetzel.“
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ein wunderbarer Text! ich fühle mich in meiner Arbeit und Haltung bestärkt.
danke!
PS: und gekauft wird es natürlich.