Wann begann man eigentlich, Todesfälle in der Prominenz mit Verschwörungstheorien zu erklären? Wann begannen morbide Fanatiker zu glauben, dass Elvis lebt? JFK lebt? Kurt Cobain lebt? 2Pac lebt? Wann begann diese abgründige Faszination, die postmortale Heroisierung? Egal: jetzt, da wir uns in einer Epoche befinden, in der sie eigentlich noch alle leben, irgendwo, gibt es eine Möglichkeit damit zu spielen. Und genau das macht Manu Larcenet auf sehr absurde und amüsante Weise.
Er teleportiert uns in den ersten Weltkrieg.
Es hieß schon öfter, dass der Krieg etwas Außergewöhnliches ist. Für unseren Alltag ist er ein Fremdkörper. Es ist sogar so, dass hier schon der sogenannte Alltag außergewöhnlich diffus ist: Versteht einer, was hier täglich passiert? Versteht ein Politiker die träge Neutralität, die chronische Unlust, den angewiderten Gleichmut, oder: Will überhaupt ein Politiker all das verstehen?
Die wundersamen Abenteuer von Vincent Van Gogh: An vorderster Front entziehen uns dem Alltag: Der Comic zeigt gewissenlose Politiker, die auf abstoßende Weise kapieren wollen, was mit der angeschlagenen Moral der französischen Truppen im ersten Weltkrieg los ist. Natürlich will der Präsident und seine Gefolgschaft das gemütliche Leben in der Distanz nicht aufgeben. Wie kann man den „Geist des Krieges“ also wahrhaftig nacherleben, während man im Schaukelstuhl sitzt?*
Es muss sich jemand finden, der dokumentiert. Mehr noch: Es muss sich jemand finden, der die Realität einfängt und die metaphysische Atmosphäre sezieren kann. Mehr noch: Es muss sich jemand finden, der alles so komprimieren kann, dass der Präsident den Krieg in seinem Landhaus nacherlebt, als wäre er vor Ort! (Es gab ja wohl noch keinen Bin Laden-Exekutions-Live-Stream.)
Der tragische Held der Story ist Vincent Van Gogh. Der belesene Leser denkt vermutlich, dass Van Gogh 1890 Suizid beging. Er hat Recht. Der belesene Leser vermutet den ersten Weltkrieg vielleicht in einem anderen Jahrhundert…
Aber was ist wirklich ungewöhnlich an den wundersamen Abenteuern? Ungewöhnlich ist zum Beispiel, dass Van Gogh verflucht normale Zigaretten raucht. Wo hat er seine Pfeife gelassen? Wo ist das Ohr, das er verloren hat? Es ist nicht verloren! Es hängt an seinem Kopf…
Mr .Van Gogh fürchtet, dass es an der Front „keine Sonnenblumen geben“ wird, dabei sind „Sonnenblumen meine Leidenschaft“, erklärt er. „Zweifellos ist es das Gelb, was in mir Abgründe der Faszination hervorruft… sie erlauben mir, der Welt meine Verzweiflung hinzuknallen.“ Das ist die Hauptaufgabe eines Impressionisten, der seinen Selbstmord nur vorgetäuscht hat.
Was soll das alles? Van Gogh sollte im Jahr 1890 als Gefreiter des künstlerischen Spezialtrupps den Kubismus auslöschen. Er konnte es nicht, weil er von den kubistischen Arbeiten beeindruckt war. Also tauchte er ab, malte Jahrzehnte in Arles, bis er wieder rekrutiert wird. Noch einmal steht er im Dienst der Regierung.
Als Vincent dann die ersten Bilder aus dem Krieg schickt, kommt es zu folgendem Gespräch zwischen dem Präsidenten und seinem Berater: „…Soldaten, Schützengräben, Ruinen…“ „..ein paar Explosionen für die ausgewogene Komposition… Ich sehe hier nichts, was wir noch nicht wissen… das ist alles hoffnungslos banal.“ Via Telegramm wird Vincent weiter ins Getümmel geschickt: er soll im Kugelhagel stehen, er soll die Action hautnah miterleben: Und er soll weniger Gelb verwenden…
Der Stil pendelt ein bißchen zwischen Asterix und Lucky Luke. Manche würden das begrüßen, weil es ein seltsames Aufeinandertreffen zwischen dem Schrecken des Krieges und dem Cartoon impliziert. Allerdings kann man es auch kritischer sehen und sagen, dass der Stil in diesem Kontext einfach nicht überzeugt. Zumindest ist es so, dass die Bilder dem genialen Grundgedanken der Handlung nicht entsprechen. Und auch die Handlung bricht zu schnell ab. Aus dieser Idee ließe sich ein 200-Seiten starker Epos machen, der restlos überzeugt. Das gelingt nicht auf 48 Seiten.
Wer ist die „Mutter der Granaten“? Und wer ist ihre Tochter? Was passiert mit Deserteuren (eine überflüssige Frage)? Wer wird diese Odyssee überleben? Werden die Politiker schließlich mit Van Goghs Bildern zufrieden sein? Werden sie den „Geist des Krieges“ verstehen?
Lest dieses Buch, es lohnt sich. Gelungene Anspielungen auf die Bourgeoisie, auf den populären Monet, der die Massen bedient, inklusive.
Manu Larcenet schafft es, diese Geschichte komisch zu erzählen, er schafft es, die moralischen Abgründe nur am Rand mitlaufen zu lassen, er schafft es, den missverstandenen Künstler Van Gogh in den Mittelpunkt zu stellen, er schafft es, die tragische Figur zu einem coolen Helden zu machen, er erschafft vor allem ein großartiges Szenario.
Allein die Idee, Van Gogh weiter leben zu lassen, verdient sehr viel Achtung. Sehr konsequent und logisch, dabei absolut unerwartet und überzeugend. Wer große Ideen würdigen kann, sollte bestellen…
Die wundersamen Abenteuer von Vincent Van Gogh: An vorderster Front von Manu Larcenet.
2008 im Reprodukt Verlag erschienen. Softcover, 12 Euro.
Joshua Groß
* (wer will, kann über Abgehobenheit in der Politik sinnieren, oder eine verlorene Verankerung…)