In einem Blog mit Beiträgen von Paten des Theaterfestivals Neue Stücke aus Europa formulierte Paul Pourveur einmal, dass in einer globalisierten Welt zu schreiben, einem beständigen Unterwegs-Sein in einer Welt gliche, dessen Realität nur schwer zu entziffern sei. Es entstünde eine „Dramaturgie der Reise“, die Reise erhalte hier und da einen Sinn, eine neue Bedeutung, je nachdem, an welchem Ort man sich zu welchem Zeitpunkt in seinem Leben befinde. „Der Text und seine Bedeutung bauen sich Schritt für Schritt nicht durch Zufall, sondern durch die Gleichzeitigkeit von gegenübergestellten Elementen auf.“
Auch in Pourveurs Stück Shakespeare is dead – get over it! treffen Reisende aufeinander, deren Weltbilder disparater nicht sein könnten: Anna ist Schauspielerin mit einem großen Shakespearefaible. William dagegen ist Angestellter bei GAP. Sie glaubt an die brennende Aktualität Shakespeare’s Themen und daran, dass die Vergangenheit die Gegenwart verändern kann. Er dagegen ist ein unumstößlicher Globalisierungsgegner, der nicht an die Macht der Vergangenheit, sondern nur an die aktuellen Ereignisse glaubt – und außerdem auch schon mal bei Demos gegen seinen eigenen Arbeitgeber zu finden ist. Das Gegensätzliche findet sich also nicht nur zwischen den Biographien, sondern auch innerhalb der Biographien selbst.
Das ungleiche Paar findet in der Erlanger Inszenierung von Eike Hannemann während einer Jean-Luc Godard Retrospektive zueinander. Eine Leinwand im Hintergrund, auf der Godards Film Die Verachtung läuft, ist Zentrum des Bühnenbilds, im Hintergrund säuselt die Filmmusik vor sich hin. Vor der Leinwand: Eine romantische Waldtapete und ein Damhirsch, der die Projektion halb verdeckt – welcher im Stück übrigens verantwortlich ist für Shakespeares Karriere: Dieser schießt auf besagten Hirschen und flüchtet, weil er die Buße nicht bezahlen will, nach London, wo er sich – zufällig oder schicksalshafterweise – einen Namen macht.
Wie dem auch sei – die Liebesgeschichte von Anna und William, die sich im Folgenden entwickelt, nimmt aufgrund der Differenzen kein gutes Ende. Am 5. August ertränkt sich Anna in ihrem Golf, William stirbt an den Folgen eines Feuers, das er im Globe Theatre legt.
Am selben Tag verendet auch Marilyn Monroe. Ebenfalls lesen eine gewisse Margaret und ein Ronald während eines gemeinsamen Bibliotheksaufenthalts anstatt John Milton versehentlich Milton Friedman und frönen seitdem dem Monetarismus. Und Werner und Niels erkennen die gleichzeitige Existenz und Nicht-Existenz Shakespeares – und das nur, weil sie die Bibel lesen, sich daraufhin für Licht interessieren und Physiker werden.
Das alles klingt nach einem heillosen Durcheinander – ist es auch. Linda Foerster und Steffen Riekers erzählen flüchtige Szenen, reißen Versatzstücke aus Biographien an und unterbrechen das Ganze immer wieder durch Kommentare am Rande (Der Text gibt keine Dialogstruktur vor). Wenn sie dann miteinander sprechen, springen sie in die verschiedensten Rollen. Aber trotzdem: Alle Fragmente scheinen sich zu verschiedenen Zeitpunkten zu berühren, alles scheint mit allem verwoben zu sein. Vergangenheit und Gegenwart, Kunst und Kommerz, Religion und Markt – Shakespeare is dead – get over it! wirkt wie ein riesiges Gewebe aus Thesen und Antithesen, aus Fragen und Antworten. Eine durchgehende Linie, eine Geschichte dagegen, gibt es nicht. Das zeigt sich schon in der diskontinuierlichen Struktur des Stücks: Foerster und Riekers springen zwischen den Erzählsträngen und Zeitpunkten hin und her, und trotzdem klebt man an ihren Lippen. Obwohl das meiste über die Sprache verläuft, der Körper nicht besonders stark eingesetzt wird, ist die Inszenierung fesselnd, nie verliert man die Aufmerksamkeit. Das von Pouveur geforderte Verhältnis des Zuschauers, der im Theater gleichzeitig in und außerhalb des Erzählten sein kann, ist hier in jedem Fall erfüllt.
Die Maxime „Lebe anständig – Denke an das Folgende“ ist im Stück zentral – und zusammenfassend zeigt der Abend wohl vor allem eines: Dass man es wohl nie ganz schafft, nach ihr zu leben.
Bärbel Scherf