Günter Grass hatte den Lesern seines umstrittenen Gedichts „Was gesagt werden muss“ wohl mehr Intellekt zugesprochen, als diesen zusteht. Wie kann es sein, dass der Dichter unmittelbar nach Erscheinen seiner in Prosa gefassten Lyrik als Antisemit bezeichnet, seitens der ehemaligen Bundespräsidentschaftskandidatin Beate Klarsfeld sogar auf eine Stufe mit Hitler gestellt wird? Gut, dass diese Frau nicht neues Staatsoberhaupt der Bundesrepublik geworden ist!
Dort, wo kritische Stimmengegen einen Herrn Sarrazin vollkommen gerechtfertigt erscheinen, wirken sie in Bezug auf Grass geradezu lächerlich. Mit welcher Begründung erlauben sich die Kritiker eine solche Rufschädigung? Antisemitische Züge kann ich beim besten Willen in besagtem Gedicht nicht erkennen. Vielmehr wird immer wieder Grass‘ Bedauern über die deutsche Rolle im Holocaust und seine eigene Vergangenheit deutlich. Doch seitens der Rezipienten steht die politische Gesinnung des Autors eher im Vordergrund als die Diskussion über eine, seiner Meinung nach, akuten Gefahr.
Statt die Inhalte stichhaltig zu verifizieren oder falsifizieren, gegebenenfalls zu relativieren, fokussiert man die politische Vergangenheit Grass‘ und ist sofort mit Beschimpfung und Verunglimpfung als Antisemit zur Stelle. Ebenso wie Grass in einem Interview mit der „Kulturzeit“, fordere und erwarte auch ich mehr von der journalistischen Leistung in Deutschland.
All diese Reaktionen zeigen, dass der Urheber zu recht so lange geschwiegen hat. Das Zögern und Ringen mit der eigenen Person tritt spürbar im Prosagedicht hervor. In einem Land der Meinungsfreiheit, wo ein preisgekrönter Literat weder eine Hasspredigt hält, noch „die Idee weiterbringen [will], die er früher mit dem Tragen der SS-Uniform offen unterstützt hat“ (http://www.stern.de/panorama/nach-kritischem-gedicht-israel-laesst-grass-nicht-mehr-einreisen-1810883.html) solch eine Verleumdung zu erfahren, ist unvorstellbar und doch bittere Realität. Die befürwortenden Stimmen halten sich verstärkt im Hintergrund, was vermutlich zum Großteil an den heftigen, negativen Reaktionen gegenüber Grass liegt.
Sogar Marcel Reich-Ranicki, der das Gedicht als „ekelhaft“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/reich-ranicki-greift-guenter-grass-an-ein-ekelhaftes-gedicht-1.1327842) bezeichnet und aufgrund seiner jüdischen Herkunft bezüglich dieses Themas befangen sein könnte, betont, dass Grass kein Antisemit sei.
Was ist falsch daran, politische Differenzen gewaltfrei lösen und die potentielle, von Ländern des Nahen Ostens ausgehende Gefahr durch eine international gesteuerte Kontrolle der Waffenpolitik eindämmen zu wollen? Am Ende des Gedichts ist wohlgemerkt eine gleichberechtigte Überwachung Israels und des Irans erwünscht. Wenn der 84-jährige Autor ein Antisemit ist, so sind seine Gegner ausdrückliche Kriegsbefürworter. Die einzige Schuld Grass‘ besteht darin, den Intellekt seiner Kritiker überschätzt und die Feigheit seiner Befürworter unterschätzt zu haben.
Christina Tittus