Manche Dinge sind unfair, denkt man. Wieso bei deutschsprachigen Bands immer mehr Wert auf die Texte gelegt wird, als auf die Musik, die Songs, die Melodien, zum Beispiel. Eine deutsche Eigentümlichkeit, schließlich ist ja da die böse Vermutung, alles könne doch irgendwie nach Schlager klingen und dann hört man doch besser englische Zeilen, weil die notwendige Distanz zum Gesagten dort immer bestehen bleibt, auch wenn jedes Wort verstanden wird. Und deshalb manche Sachen auf deutsch einfach nicht zumutbar sind, auch wenn englische Pendants mehr oder minder dasselbe singen (und weshalb man froh ist, dass Bands wie die Beatsteaks doch besser auf englisch singen). Abseits dieser grundsätzlichen Ungerechtigkeit gibt es aber noch andere Gründe dafür, warum der Fokus bei sämtlichen ernst zu nehmenden deutschsprachigen Gitarrenbands eben bei den Texten liegt: Ihre Musik allein (sieht man von den jeweiligen individuellen Stimmen ab) klingt so unterschiedlich nun wirklich nicht, und ist vielleicht noch gar nicht mal so spektakulär, neu, aufregend, oder überhaupt irgendwie innovativ – die Differenzierung muss daher anderweitig, nämlich über die Texte, erfolgen, welche denn auch ausschlaggebend für den anhaltenden Erfolg dieser Bands sind.
Ob Tocotronic, Blumfeld, Die Sterne, Tomte oder eben Kettcar – sie alle werden (wurden) darüber definiert, wovon sie singen, nicht wie sie es tun: Die einen weil sie „Diskurspop“ (ein schlimmes, muffige Seminarräume und grelles Röhrenlicht evozierendes Wort), die anderen weil sie „Befindlichkeitspop“ machen. Kettcar, immerhin auf den Trümmern der Punkband …But Alive errichtet, werden gemeinhin in letztere Kategorie eingeordnet. Sie sind die poetischen Chronisten sentimentalen Mitdreißigertums, singen über zerbröselnde Freundschaften und Liebe und den Mann vom Balkon gegenüber, die leise Melancholie des Alltags, die Jugend vorbei, die Orientierungslosigkeit noch da. Mach immer was dein Herz dir sagt, und begrab es an der Biegung des Flusses.
Marcus Wiebusch, Frontman, Songwriter, presst seine Zeilen an diesem Abend mit belegter Stimme dem völlig euphorischen Publikum im ausverkauften Saal des E-Werks entgegen. „Deiche“ macht den Anfang, „48 Stunden“ die Fortsetzung, sie spielen viel vom „alten Scheiß“, weil das der Veranstalter ja so verlange und kokettieren überhaupt immer ein wenig mit der scheinbaren eigenen Durchschnittlichkeit, wenn sie behaupten, einen erstmals live gespielten neuen Song sicherlich in den Sand zu setzen – klassisches Understatement ist das, wie es auch Grand Hotel Van Cleef-Labelkollege Thees Uhlmann vor einiger Zeit im E-Werk an den Tag legte, denn natürlich klingt der gesamte Auftritt von Anfang bis Ende im positiven Sinne routiniert, ausstaffiert mit offen zur Schau gestellter Bodenständigkeit und Kumpelei, die so viel vom begehrten Identifikationspotential schafft. Da darf die triefende Ballade „Balu“ dann auch mal als von Jungs stets mit „Scheißsong“ etikettierter Girls-Beglücker bezeichnet werden, was nichts macht, weil die Boys den Refrain dann natürlich trotzdem beseelt mitsingen. Und als vor Wiebusch noch Seifenblasen im Licht der Bühnenscheinwerfer leuchten, während er Zeilen wie Du bist New York City, Und ich bin Wanne-Eickel singt, ist dieser Moment an süßlicher Oooooooigkeit kaum zu übertreffen.
Hymnisch ist das alles ohne Frage, die richtige Dosis aus kräftigem Pathos und verletzlicher Zurückgenommenheit, ein wohliger Gleichklang aus mal knallenden, mal akustisch säuselnden Gitarren und ein wenig Klavier; die Spotlights mal hell aufflackernd, wenn der Hymnenalarm losschrillt (An den Landungsbrücken raus, dieses Bild verdient Applaus), oder gemächlich rot/blau schimmernd, wenn die Balladen das Publikum in der Wiege schaukeln. Das die Songs sich immer etwas ähneln und so geballt am Stück fast ein wenig eintönig klingen, Wiebuschs Melodien doch öfter inzestuös verwoben erscheinen, macht da schon nichts mehr, denn es sind die Zeilen, die es herauszurufen gilt, die von den großen, großen Gefühlen in unserem simplen, simplen Leben. Der Tag an dem wir uns „we’re gonna live forever“, auf die Oberschenkel tätowierten, war der Tag, an dem wir wussten, die Dinge, die wir sehen, und die Dinge, die wir wollen, sind zwei Paar Schuhe.
Ein jeder Song ist dann eine tiefe Erkenntnis, morgens am Frühstückstisch, während der Taxifahrt und in der Kneipe um die Ecke, wo die Melancholie, die früher mal Wut war, zum wohligen Einrichtungsgegenstand geworden ist. Letztes Bier des Abends, das Herz im Pilsglas.
Und wahre Liebe ist… wenn man seinem Mädchen die Haare aus dem Gesicht streicht, während sie kotzt und speit und ihr die Sabberfäden die Mundwinkel hinunterlaufen, wie Wiebusch im neuen Song „Rettung“ singt und daraus schließt: Es ist nicht das, was man empfindet, nicht nur das was man fühlt, nicht, was man voller Sehnsucht sucht, Liebe ist das, was man tut.
Bei der wirklich allerletzten Zugabe, zu der die Band wegen der Begeisterung, dem Johlen und dem Pfeifen und dem Klatschen, dass ihr entgegenschallt, nahezu gezwungen ist, blickt man sich dann um und sieht die Gesichter, die diese Songs singen, diese „ist ja vielleicht alles gar nicht so schlimm“-Hymnen euphorisch herausbrüllen, und sie sind keine „Weißt du noch damals“ – Mitdreißiger, sondern jünger, viel jünger und alt zugleich. Ist das jetzt schon vorzeitige Vergreisung? In einem frühen Tocotronic-Song hieß es einst: Wir kommen um uns zu beschweren. Hier müsste es heißen: Wir kommen um uns zu arrangieren.
Manche Dinge sind unfair, denkt man. Wieso bei deutschsprachigen Bands immer mehr Wert auf die Texte gelegt wird, als auf die Musik, die Songs, die Melodien, zum Beispiel.
Ich nehme an, Sie wissen jetzt, was ich damit meine.
Manuel Weißhaar
Guter Text. Ja, man weiß es. Man sollte meinen, die Musik ist eine eigene Sprache…Jazzkeller in naher Zukunft?