Das politische und philosophische Vermächtnis von Simone Weil, Die Verwurzelung (L’Enracinement), ist im Züricher Diaphanes-Verlag in neuer Übersetzung erschienen und nach 1956 wieder in deutscher Sprache zugänglich. Simone Weil (1909 Paris – 1943 Ashford) beschreibt darin die geistigen Grundlagen einer menschlichen Gesellschaft nach der Krise. Nach dem Studium an der Elitehochschule ENS war sie zunächst Philosophielehrerin. Sie arbeitete in Fabriken, engagierte sich in der Arbeiterbewegung und kurz im Spanischen Bürgerkrieg. Trotz intensiver religiöser Erfahrungen lehnte Simone Weil es ab, der Kirche als Institution beizutreten. In der französischen Résistance mitzuwirken wurde ihr verweigert. So arbeitete sie in ihrem letzten Lebensjahr in London, von Hunger und Tuberkulose geschwächt, an ihren letzten Schriften.
‚Verwurzelung‘ definiert Weil als Teilhabe an sozialen Strukturen, in denen Schätze der Vergangenheit bewahrt werden, Perspektiven für die Zukunft entstehen und verantwortliches Handeln für sich und für andere möglich ist. Der erste, grundlegende Teil „Die Bedürfnisse der Seele“ nimmt kaum 40 Seiten ein und handelt von Ordnung, Freiheit, Verantwortung usw. und von Pflichten, die Menschen füreinander haben. Fundamental ist die Pflicht zum bedingungslosen gegenseitigen Respekt. Erst aus der Erfüllung dieser Pflichten entstehen Rechte.
Der Großteil des Werks nimmt Bezug auf Frankreich, ist aber auf andere Länder übertragbar. Weil beschreibt die Entwurzelung von Menschen seit dem Römischen Reich bis zur französischen Kolonialzeit, im Zweiten Weltkrieg und in der modernen Arbeitswelt. Ein Heilmittel für eine Verwurzelung des Menschen ist für Weil das Mitgefühl. Das Neue ihres Denkens besteht darin, auf die Bedürfnisse der Anderen zu achten. Ihre Sprache wirkt oft apodiktisch und für heutige Lesegewohnheiten sperrig, aber auch in der Neuübersetzung unwiderstehlich. Simone Weil wollte der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg „neue Inspiration einhauchen“. Wenn schon die heutige Krise mit der damaligen verglichen wird, könnte sie nicht nur ökonomisch, sondern auch als moralische Krise verstanden werden. ‚Die Verwurzelung‘ könnte Halt geben in der unsteten Globalisierung und Anregung zu Protest und Engagement liefern, jedenfalls lenkt sie den Blick auf das menschliche Maß.
Thomas Werner
Simone Weil, Die Verwurzelung.
Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber. Aus dem Französischen von Marianne Schneider.
diaphanes, Zürich 2011. 288 Seiten, 24,90 Euro
http://www.institutosimoneweil.net/
https://institutosimoneweilediciones.wordpress.com
Einige Gedanken von Simone Weil begleiten mich wie Sterne
durch’s Leben.
Diese beiden greife ich heraus:
„Jedes Wesen ist ein stummer Schrei danach, anders
gelesen zu werden.“
und zum Thema:
„Die Entwurzelung ist bei weitem die gefährlichste Krankheit
der menschlichen Gesellschaft.
Wer entwurzelt ist, entwurzelt.
Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht.
Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und
meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele.“
Würde mich freuen, wenn diese Worte von
Simone Weil auch andere
Leser ansprechen.
Birgit Kassovic
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