Unendliche Weite


Bevor man sie nun alle mühsam und prahlerisch zitiert, die Lobeshymnen, Elegien, Superlative, die auch in Deutschland über dem amerikanischen Literaturschwergewicht David Foster Wallace ausgeschüttet wurden (um einen passenden Einstieg in diesen Text zu finden), probieren wir es doch lieber mit einem radikal subjektiven, mikroskopischen Ansatz und versuchen uns in einer präzisen Beschreibung der Wirkung dieses Autors auf den Verfasser dieser Zeilen, also mich, und zwar am Beispiel der Lektüre des Romans „Unendlicher Spaß“: Gelesen in den Semesterferien 2011, ein Buch wie ein Ziegelstein, über 1552 dünne Gotteslobseiten, gut ein Drittel davon ein obskurer, gewaltiger Fußnotenapparat, als schwierig verschrien (Amazon-Kunde: ‚Unleserlich! Unendlicher Spaß macht gar keinen Spaß‘), mit einleitenden zwei Seiten Superlativen irgendwelcher wichtiger Leute versehen, eine Herausforderung für die zerebrale Trockenzeit, einkalkulierte Lesedauer: Mind. drei Monate, bei ausreichend freigeräumter Zeit zum Lesen, integriertes Risiko die Sache durch das Jahr zu verschleppen. Am Ende hat es dann lediglich drei Wochen bis zum letzten Satz gebraucht, nachdem ich wieder hätte von vorne anfangen können, irgendwie. Zeit, die währenddessen für den Konsum weiterer Medienprodukte (US-Fernsehserien, Filme, Platten) aufgewandt wurde: 98 Minuten (Kino); mögliche ins Lesen investierte Freizeit: Maximal.

Der Roman selbst? „Alles und noch vielmehr“ (Don DeLillo, um jetzt doch mal ein Zitat zu verwenden), genauer, eine Zukunftsvision, eine Dystopie; totale Vernetzung, totale Vermüllung, totales Entertainment für Jedermann, die Protagonisten ein unübersichtlicher Haufen von bizarren Neurosen geplagter Sonderlinge, Kranker, Hypochonder und psychisch schwerst Labiler, eine Gesellschaft von Abhängigen, abhängig nach Drogen, Pillen, Tabletten oder nur Entertainment und Advertising – die Welt in „Unendlicher Spaß“, ein von Konsum- Leistungszwang und Durchkommerzialisierung durchtränkter Irrwitz, dessen endlose Leere eine Nation von Süchtigen und Narkotisierten jedweder Couleur generiert; und süchtig sind sie alle, wenn nicht nach Substanzen, dann nach „Unendlicher Spaß“, dem Film, der so unterhaltsam ist, dass der Rezipient am Ende verhungert und verdurstet. Und damit ist noch nicht einmal der grobe inhaltliche Rahmen abgesteckt, denn da wären ja noch die terroristischen Separatisten in Rollstühlen, die Kabinettssitzungen des Präsidenten und Tennis, sehr viel Tennis.

Das alles mag furchtbar humorlos und deprimierend klingen: Ist es aber nicht, sondern im Gegenteil ziemlich komisch, geradezu unfassbar komisch. Damit wäre das Ende dieser kleinen Exkursion erreicht, und um dem Ganzen eine gewisse Sinnhaftigkeit angedeihen zu lassen, sei gesagt, dass „Unendlicher Spaß“ (und der Erfolg der 2010 erschienenen deutschen Übersetzung hierzulande) zum einen einer der Hauptgründe dafür ist, dass nun mit „Alles ist Grün“ eine Kurzgeschichtensammlung (um die es hier ja, siehe Bild, eigentlich gehen soll) von Foster Wallace auf deutsch publiziert wurde, deren Originalband bereits 1989 veröffentlicht wurde – und zum anderen die Geschichten in „Alles ist Grün“ bereits zentrale Themen für den großen Wurf von 1996 sprachlich, inhaltlich, formal, vorwegnehmen. Natürlich gibt es noch einen anderen Grund, wieso Foster Wallace plötzlich so fleißig thematisiert wird, nämlich der, dass der Autor sich 2008 im Alter von 46 Jahren erhängt hat (sich die Karte umdekoriert hat, wie Foster Wallace es ausdrücken würde), Opfer seiner jahrelangen Depressionen. So etwas lässt natürlich den obligatorischen Raum für postmortale Heldenverehrung, und für eine gewisse Neubewertung des von DFW (so der Spitzname) hinterlassenen Werks, dessen inhaltliche Konstanten, die Erschöpfung, die Leere, nun autobiographisch, das Schreiben therapeutisch gedeutet werden, was furchtbar dumm ist, sich aber wohl nicht vermeiden lässt. Autobiographische Bezüge lassen sich auch in „Alles ist Grün“ zuhauf finden. Das Echo von Wallace‘ Lebenslauf (er war zunächst Tennisprofi, dann Logik- und Mathematik, anschließend Literatur- und Philosophiestudent, zuletzt Professor für Englische Literatur und Kreatives Schreiben), hallt stets in diesen Geschichten wieder, sei es konkret („Westwärts geht der Lauf des Weltreichs“ handelt vom
obskuren Ausflug eines Creative-Writing-Seminars) oder nur sprachlich (der hyperreale, mathematische Stil mit Adjektiven wie tangential und paraboloid).

Sicher, Foster Wallace‘ genialische Fähigkeit scheinbar mühelos alles, wirklich alles mit Sprache zu können, diesbezüglich über ein geradezu unendliches Arsenal stilistischer Kabinettsstückchen zu verfügen, vom rüden Gossenslang über Protokolle, Monologe oder Stream of Consciousness-Eskapaden bis hin zu massiv fremdwörtergespickten wissenschaftlichen Abhandlungen, deren endlose wasserfallartige Satzkaskaden die Geduld strapazieren, mag so Manchen nach erstem Lesen abschrecken. Die Umständlichkeit mit der hier erzählt wird ebenso, das gilt auch für die Geschichten in „Alles ist Grün“. Die erste Story erzählt vom Treffen zweier mittlerer Führungspersönlichkeiten eines großen Unternehmens in der Tiefgarage, von denen eine, noch während die andere sich ein paar Kommunikationsfloskeln zurechtlegt, mit Herzinfarkt zusammenbricht. Es folgt eine Herz-Lungen-Massage in der menschenleeren Garage, ein plötzlicher, erschütternder Einbruch von Intimität in das zuvor ausufernd beschriebene sterile Nichts der blankpolierten kühlen Glasaluminiumbusinesswelt, ein Moment den Wallace für die Ewigkeit konserviert, ein Moment, nur auf die Bedürfnisse zweier Leben ausgerichtet.

„Hier und Dort“, eine weitere Story, schneidet Protokollaussagen eines Paares ineinander und filetiert Beziehung und Persönlichkeit der beiden Protagonisten mit der Schärfe eines Tranchiermessers. „Sag nie“ schildert wiederum den wiederholten Ehebruch eines Germanistik-Professors aus der Perspektive verschiedener Familienmitglieder. Dieser Professor informiert seine Angehörigen über den Sachverhalt mit einem grotesk gestelzt geschriebenen Brief, in dem er seine libidinal-genitalen Aktivitäten a) nicht entschuldigen und b) nicht erklären möchte, da jegliche Erklärung einer Verfehlung unweigerlich in ihre Entschuldigung metastasiert – und will stattdessen d) in einer lange erprobten heuristischen Pentade die Gründe beschreiben, warum diese Ereignisse stattfanden – ein eitler Geck also, ein selbstherrlicher Unsympath, wäre da nicht die gequälte Abrechnung mit sich und dem eigenen Leben, die darauf folgt und die desillusionierende Gewissheit, dass die Beziehung mit seiner neuen jungen Liebe nichts als Zerstörung bereithält: Als ich in ihr komme, rufe ich einen Gott an, dessen Abwesenheit mir nie so schmerzlich bewusst geworden ist.

Man kann ähnlich über David Foster Wallace als Autor denken, ihn für einen von sich selbst und seinen Fähigkeiten eingenommenen Prahler halten, wenn das Nutzen von absonderlichen Fremdwörtern das Verständnis mal wieder erschwert oder die bisweilen furchtbar komplizierten Satzkonstrukte unter dreimaligem Durchlesen nicht zu durchschauen sind; man kann auch die bemüht-selbstreflexive Auseinandersetzung mit der literarischen Postmoderne (ein Foster Wallace verhasster Begriff, mit dem man ihn dennoch etikettiert hat) in „Westwärts geht der Lauf des Weltreichs“ als doch sehr oberschlau wirkende Kopfgeburt ansehen. Was man aber nicht kann, ist die unglaubliche Emotionalität dieser Storys zu ignorieren, die unter der mathematisch-sterilen Oberfläche schlummert, nur um plötzlich in seltener, erschütternder Klarheit hervorzubrechen.

In diesen Momenten ist das Frühwerk „Alles ist Grün“ ähnlich überwältigend wie das spätere Opus Magnum „Unendlicher Spaß“, funktionierend wie ein Wasserabzieher, mit dem man über eine beschlagene Scheibe wischt: Und am Ende offenbart sich ein reiner kristallin-klarer Blick in eine unendliche Weite .

 

David Foster Wallace: Alles ist Grün. Storys.
Kiepenheuer & Witsch (ISBN 3462043277)
19,99 Euro

 

Manuel Weißhaar

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