Wo möchtest du sterben?

Halt auf freier Strecke„, ab 17. November im Manhattan-Kino

© Patrick Wallochny

© Patrick Wallochny

Es gibt immer etwas zu erledigen und immer etwas zu feiern. Binsenweisheit: Wir haben keine Zeit und keine Lust, uns über unsere Endlichkeit Gedanken zu machen. Und doch gibt es bei allen Meinungen und Streitigkeiten die eine Gewissheit, auf die wir uns alle einigen können: Irgendwann ist es vorbei. Und jetzt? Ändert das etwas? Manchmal hört man von Menschen, dass sie etwas gesehen oder erlebt haben, das ihren Blick auf alles verändert hat und sie so zu anderen Menschen geworden sind, irgendwie. Hätten wir es mit einer anderen Gesellschaft zu tun, wenn es mehr direkte Konfrontation mit dem Sterben, dem Tod gäbe anstelle der vorherrschenden Ignoranz? Das Bewusstsein vom Tod –  hätte es ein bewussteres Leben zur Folge? Vielleicht. Hier setzt Andreas Dresen (Wolke 9, Sommer vorm Balkon) mit seinem neuen Film Halt auf freier Strecke an, den Hauptdarstellerin Steffi Kühnert und Produzent Peter Rommel eine Woche vor dem offiziellen Kinostart in den Erlanger Lamm-Lichtspielen vorgestellt haben.

Es beginnt mit der Diagnose. Franks (Milan Peschel) Kopfschmerzen kommen von einem bösartigen, inoperablen Gehirntumor. Man entscheidet sich gegen einen Krankenhausaufenthalt, Frank kommt nach Hause. Von hier an begleiten wir den 40-jährigen Familienvater, seine Frau Simone (Steffi Kühnert) und seine zwei Kinder Lilly (Talisa Lilly Lemke) und Mika (Mika Seidel) auf ihrem kräftezehrenden Weg, den ihnen die Krankheit vorgibt.

Bespricht Frank Plasberg zu guter Sendezeit mutig das Tabuthema Sterben, dann bleibt es – von dreiminütigen Einspielfilmen abgesehen – theoretisch und ziemlich weit weg. Wenn es tatsächlich der direkten Konfrontation bedarf, damit uns etwas wirklich angeht: Welche Form wäre angebrachter als der Spielfilm, der sich gerade durch seine unmittelbare Wirkung auf uns auszeichnet? In den wir eintauchen und der uns Dinge zeigen kann, die wir sonst nicht sehen, Schicksale erleben lässt, die uns für gewöhnlich verborgen bleiben.

So hat sich schon manch Drehbuchautor und Regisseur für das hier von Dresen behandelte Thema interessiert und Geschichten von der plötzlichen Hiobsbotschaft einer unerwarteten Krankheit oder des nahenden Todes erzählt. „Wie reagiert man dann?“ – Das ist hier die Frage. Die Antwort ist im Großteil der Fälle pathetische Erbauung des Zuschauers, Kitsch. Es wird ehrenvoll gestorben, man erledigt vorher, was erledigt werden muss – der Sterbende als tugendhaftes Beispiel für die Lebenden; Sterben stärkt. Ungleich seltener kommt es auch zum anderen Extrem: Sterben als Skandal. Sterben ist scheiße und du kommst auch noch dran. Die Bereitschaft, sich mit dem Thema ernsthaft auseinanderzusetzen, steigert auch ein solcher Kinobesuch nicht.

Produzent Peter Rommel und Hauptdarstellerin Steffi Kühnert; © Patrick Wallochny

Produzent Peter Rommel und Hauptdarstellerin Steffi Kühnert; © Patrick Wallochny

Aus diesem Grund ist Halt auf freier Strecke ein Film mit Berechtigung. Dresen nimmt sich nicht als erster des schwierigen Themas an. Es wurde schon oft behandelt, aber nicht so. Er verfolgt weder das pädagogisch platte Ziel, uns die Angst vorm Sterben zu nehmen, noch glaubt er, uns mit Schlägen ins Gesicht auf etwas aufmerksam machen zu können.

Dresen inszeniert gewohnt feinfühlig, begleitet seine Figuren im semi-dokumentarischen Stil, der eine ungeheure Sogwirkung entfaltet. Wir sehen kein Hochglanzprodukt mit perfekt gesetztem Licht und Make-up, keine vordergründige Fiktion, die wir als solche abtun können, sondern etwas Authentisches, Aufrichtiges, Ehrliches, ohne Falsch. Die Tatsache, dass Dresen die kleinen Rollen, hier vornehmlich aus dem medizinischen Fach, wieder mit Statisten besetzt, unterstützt diesen Dokumentationscharakter. Sie spielen sich selbst, sagen, was sie im Alltag zu Betroffenen sagen, an genau den Orten, an denen sie es im Alltag sagen, und lassen so Wirklichkeit in Fiktion einfließen.

Dem Film liegen rund sechs Monate Recherche zugrunde, die es zum Ziel hatte, möglichst lebensnah erzählen zu können. Dresen befragte Sterbebegleiter, Ärzte und Betroffene und entwickelte auf der Grundlage dieser Gespräche anschließend gemeinsam mit seinen Schauspielern die Figuren und Szenen. Für den Dreh nahm man sich zwei Monate Zeit und übernachtete im kleinen Team gemeinsam in einer Treptower Wohnung. Ein festes Drehbuch gab es wie schon bei Wolke 9 nicht. Stattdessen agieren Schauspieler und Laien frei in vorgegebenen Situationen. Dem Arzt, der zu Beginn des Films die Diagnose stellt, begegnen Steffi Kühnert und Milan Peschel zum ersten Mal vor der Kamera. Das Gespräch dauert dann 40 Minuten, immer wieder mit schweigenden Phasen. Die Wirklichkeit, die sich weiterdrehende Welt, hält Einzug in die Szene, wenn der Neurologe einen Anruf auf dem Diensthandy bekommt, den er annehmen muss. Er taucht auch im Film auf, ohne dass man ihn eingeplant hätte.

Warum hat Andreas Dresen nicht einfach eine Dokumentation gedreht? Weil er hier zeigen kann, was man bei wirklichen Schicksalen der Diskretion wegen ausblenden muss und dabei trotzdem die Würde seiner Figuren bewahrt. Weil er immer wieder Raum zum nötigen Abstandnehmen schaffen kann; immer wieder gibt es etwas zu lachen und poetische Elemente, in denen Franks Gehirntumor beispielsweise bei Harald Schmidt zu Gast ist. Oder er wird in den Nachrichten besprochen, die vorher Tagesaktuelles berichten, wodurch die Geschichte eine zeitliche Verortung bekommt – die Welt hat sich weitergedreht seitdem.

Im Mai dieses Jahres hat das fantastische Ensemble von „Halt auf freier Stecke“ bereits  bei der Premiere des Films in Cannes das Publikum in seinen Bann ziehen können, woraufhin er dort den Preis in der Nebensektion Un Certain Regard erhielt. Andreas Dresen liefert einen starken Themenfilm ab, der sich für nichts anderes als die Geschichte einer Familie interessiert, die sich plötzlich mit dem nahenden Tod, dem  Kontrollverlust des Vaters über seinen eigenen Körper, konfrontiert sieht. „Normale“ Menschen, die ungeheure Kräfte mobilisieren müssen und dabei trotzdem Weihnachten und Silvester feiern. Der untypische halbdokumentarische Ansatz mag vielleicht nicht dem Geschmack vieler Kinogänger entsprechen; gerade er ist es aber, der den Reiz dieses Films ausmacht. Dresen verzichtet auf eine bedeutungsschwere Botschaft – was wir aus dieser Geschichte mitnehmen wollen, bleibt uns selbst überlassen. Im besten Fall bringt der Film das Kunststück fertig, uns für etwas zu sensibilisieren, das viel alltäglicher ist, als es sich anfühlt.

Wenn Halt auf freier Strecke allmählich auf das Ende zugeht, tickt in Franks Zimmer ohne Unterlass eine Uhr. Nicht nur für Frank.

 Marian Freistühler

 

Halt auf freier Strecke Publikumsgespräch from Marian Freistühler on Vimeo.

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