Das, was Sie jetzt gleich lesen werden ist nicht das, was Sie ursprünglich lesen sollten, denn hier müssten eigentlich zwei Artikel stehen: Einer, der sorgfältigst über die Hintergründe des Nürnberg.Pop-Festivals berichtet und dabei Stimmungen und Atmosphäre des Abends wiedergibt sowie einer, der die Konzerte an sich beschreibt, laut und brachial und formidabel, wie sie waren. Nun verhält es sich allerdings so, dass mein geschätzter Kollege Joshua Groß des Morgens in der Bahn diesem Typen begegnet ist, der behauptete, er, Frank Mino, und sein Kumpel Jakob Hansen seien Doktoren des Journalismus, die den Abend etwas anders verbracht hätten — und es war so ein wirrer Abend, dass wir uns entschlossen haben, ihre Erlebnisse hier wiederzugegen, weil es vielleicht vielen so ging, die auf diesem Festival feierten, in dieser seltsamen Nürnberger Nacht…
Jakob Hansen
Roter Nebel, kurz vor der Dämmerung
„Das Besondere am Four Roses Kentucky Straight Bourbon Whiskey ist seine Herstellungsprozedur. Dabei werden fünf unterschiedliche aromatische Hefen und zwei verschiedene Getreidemischungen verwendet. Aus der Kombination dieser Zutaten ergeben sich zehn Geschmackrichtungen, die getrennt in Fässern lagern und nach fünf bis zehn Jahren zu einem vortrefflichen Blend gemixt werden. Dieses Verfahren macht den Four Roses so weich und samtig im Geschmack.“
Ein alter Texaner mit Hut aus einem dieser gefakten PseudoVintage-Whisky-Werbespots
Roses, Four Roses, Rosen, rotes Licht, lautlautlaut, MinoMinorChord7, Scheiße Schauspieler, wo ist die Toilette, die Toylette…seltsame Gedankenfetzen im ungesund komatösen Schlaf der Betrunkenen, aber dann…der Wecker. ES IST NOCH SUPPE DA, WIR SINGEN TRALALA! Wie? Oh Gott, nicht doch, verzögern, verzögern, bitte, nochmal neun Minuten gekauften Schlaf, noch neun Minuten. So ist’s recht, so ist’s…ES IST NOCH SU… Jesusgodmotheroffffffsweetgeorgiafuckin’brown! Kann jemand mal die Zeit abstellen? Ich nehme mir, halbblind mit den Händen tastend, die Freiheit, dass lärmende Handy vom Nachttisch zu greifen und schmeiße es irgendwohin, quer durch mein Zimmer, darauf hoffend, dass eine derart rüde Behandlung es zum Schweigen bringt. Aber nein, es hört nicht auf das weitere Vorhandensein einer nicht näher präzisierten Suppe zu bejubeln und schon gut, schon gut, ich stehe ja auf, ist ja schon nach eins.
Joa, was nun? Besuchen wir mal das Livre du Visage. Frank M. hat geschrieben. Ob ich noch heil nach Hause gekommen bin? Ja, I suppose, irgendwie schon, zumindest glaube ich das, nach dem ersten Systemcheck. Gut, in meinem Kopf pumpt es wie verrückt und das ist auch kein Kater, sondern fühlt sich eher an wie zwei, die es zudem wild und auf absolut obszöne Art und Weise miteinander treiben, aber der springende Punkt ist ein anderer. Ich weiß nämlich nicht mehr allzu viel von der Nacht zuvor, zumindest ab einem gewissen undefinierbaren Punkt an. I must have left an important part of my brain. Das ist eher suboptimal, schließlich bin ich some kind of Journalist und habe über Konzerte zu berichten; ergo also Sätze wie „Das grantige Keifen von Franz Wanzl und die polternden Gitarren verdeutlichen, wieso man Kreisky Österreichs Kettensäge nennt“ zu schreiben. Leider kann ich das nun wirklich überhaupt nicht verifizieren, weil mein Gedächtnis in Sachen Kreisky-Auftritt auf Anfrage lediglich einen großen rotlichtdurchtränkten Haufen von einer Erinnerung preisgibt, was einer adäquaten Beschreibung des Konzerts dann doch zuwiderläuft.
Also nochmal von vorne, zurück zum Nürnberg HBF, vor dem sich dieser ekelhafte kleine Hund, am Zenit seines Irrsinns angekommen, auf dem Boden wälzte und den wir passierten, auf dem Weg zum Ticketstore, der als fränkische Brezelbude getarnt war. Frank Mino, der Gypsy King der vier Rosen, zeigte seinen Ausweis und ich auch. Über 18? Joa, und zwar schon so lange, dass es geradezu beängstigend ist. Außerdem sind wir Presse. Ja, genau, von der Presse.
Die ersten Konzerte hatten schon angefangen, aber die Pläne tendierten eindeutig in die Richtung, sich erst mal ordentlich einen anzutrinken – das hatte ich zwar eigentlich nicht vor, aber wenn die Nacht schon so aufreizend mit den Augen zwinkerte, sollte man ihr eine Chance geben, ganz einfach aus Prinzip. Wir saßen stilecht in einem Hauseingang, fröstelnd, weil es irgendwann in diesen Tagen auch schon wieder Herbst geworden ist und nippten an den Drinks, Plastikbier, Bourbon und Wodka Hohes C plus Früchtetee. Ich wusste immer noch nicht, wieso ich mir diese Plastikbiersache eigentlich immer wieder antat – was ist von Pragmatismus an sich zu halten, wenn er dich zwingt, immer wieder diese schreckliche Pisse in dich reinzuschütten? Gut, der Bourbon (Aroma: „Vanille, Malz, sehr fruchtig“) entschädigte dafür ein bisschen, zumindest so lange, bis Franks Kumpel N. uns unter Druck setzte, den Fürst Galapagos, die alte Kartoffelschildkrötenfresse, mit hohem C zu trinken, weil die Zeit doch so langsam drängte. Ich fühlte mich, während das auf obszöne Art und Weise sämtliche Geschmacksnerven verhöhnende Gesöff meine Kehle hinunter ran, ein bisschen wie Albus The Man Dumbledore, als der von Harry P. gezwungen wurde, die Brühe aus Voldemorts Schüssel zu trinken, mit dem Unterschied, dass ich nicht bei jedem Schluck „Töte mich!“ rief, sondern lediglich das Gesicht zu einer furchtbar entstellenden Fratze verzog und am Ende auch keine untoten weißen Zombies auf uns zukamen. Die beiden Großmütter, die währenddessen vorbeiliefen und uns mit einem angewiderten Blick beschenkten, sind nicht als solche zu betrachten.
Ein paar Minuten später im Zwinger hatten Reflekta, Reflekta noch nicht mal angefangen, was eine willkommene Gelegenheit darstellte, die Örtlichkeit nochmal zu verlassen, um in einer schäbigen Seitenstraße den Rest des Bourbons (Abgang: „Eichenuancen & Zitrusfrucht“) zu kippen. Schließlich dann die Band, darkwavigerDepecheModeIrrsinn aus der allseits beliebten 80er-Jahre-Hölle, Synthie-Inferno, etwas laut, etwas vermatscht, keine Überraschungen, alles ugo. Ein Kumpel kam an unserem Tisch vorbei und machte mich zum kurzzeitigen Beschützer seines Bieres, es jeverte mich provozierend an, aber ich konnte mich beherrschen.
Nachdem Konzert pilgerten wir, drei Getriebene, weiter, durch die kalte, dunkle, musikerfüllte Nacht, zum nächsten Auftritt, zur nächsten Band, das letzte Bier kreiste, wurde befreit aus seinem bräunlichen Plastik-Gefängnis, einem ungewissen Schicksal entgegensehend.
„Haben wir noch was?“
„Nope.“
„Verdammt, was nun?“
„Zum Bahnhof.“
„Ihr wollt gehen?“
„Quatsch, wir holen noch ne Pulle Rum.“
„Ah ja.“
Es herrschte reger Betrieb im Bahnhofstore, der für unverschämte Preise Fettiges und Hochprozentiges vertickte, ein riesiges Regal mit den besten Giften, um diesen gottverdammte Hirnzellen ein für alle Mal zu zeigen, wer hier The mAN in Charge ist. Korn, Nrok, Kron, Ornk, ja, der soll’s sein, der sah so richtig danach aus, als ob man die verbliebenen Kegel damit zu Fall bringen könnte, mit einem dieser wuchtig geschmetterten Würfe, die dreimal die Bande touchieren, wie beim Flippern hin und her prallen, möglicherweise die Decke streifen und dann wie ein Meteor zurück auf die Erde stürzen, einen Deep Impact vor dem Herrn hinterlassend. Gut durch geschüttelt mit einer Flasche Sprite schmeckte das Zeug so unverschämt chéri, dass man dieser aufgesetzten Harmlosigkeit mit schwerstem Misstrauen hätte begegnen müssen, wenn man denn nicht schon von vorne rein beschlossen hätte, genau das zu ignorieren. Dieses Gift ist das Parfum, dass ich heute Abend trage.
Irgendwann waren wir dann bei Marilyn Monroe und den Panda People gelandet oder war das schon davor. War das diese bizarre GlitterSpiegelbar die aussah, als hätte sie an sich selbst eine Inception durchgeführt, oder nicht. Keine Ahnung, aber Chronologie ist was für Taschenrechner und Staubtänzer, also waren wir nun im Marilyn und betrieben ein bisschen Dancing, nur so für’s Protokoll, lauschten den Pandabären und der elektronischen Apokalypse, ließen uns von der Bassdrum die Magengegend durchschaukeln, solche Sachen eben, gut so.
„Du bist ganz schön dicht“, meinte Mr. Frank Mino, und die nicht ganz unzutreffende Anmerkung war das letzte, was ich so ganz bewusst von ihm hörte.
Es ist nicht so, dass ich von diesem Moment an nichts (im Sinne eines zutiefst schwarzen Nichts von einem Nichts) mehr wüsste, aber die klar umrissenen Konturen, die verwischenzerlaufenzerfließen und müssen mühsam wieder nachgezeichnet werden, mit einem gut sichtbaren Fineliner, um wieder einzusetzen was Käpt’n Korn Radiergummi vom Papier entfernt hat. Also, zunächst mal musste ich ja noch zu Kreisky gehen, ich wollte da den Kumpel von vorhin wieder auftreiben und überhaupt war ich ja Presse, Gitarren fielen außerdem nach getroffener Abmachung in meinen Zuständigkeitsbereich. M&N blieben zurück und ich verschwand im roten Nebel, in dem das rote Feuer brannte, zumindest laut den Fotos, die ich zu dokumentarischen Zwecken allem Anschein nach gemacht hatte. Zerrissene Aufnahmen, eine Band, eine Toilette (aber es ist nicht wonach es aussieht) und ich verabschiedete mich vorübergehend ins Off.
And here we go again, da war der Bahnhof, es war nach fünf oder auch schon später und der erste Zug zweifellos verschwunden, aber ich war immer noch da und wartete jetzt auf den nächsten und hatte das Gefühl sehr lange zu warten. Da waren diese beiden Mädels, ich hatte, wie ich so dasaß, auf dem Boden, wohl ihre mütterlichen Instinkte geweckt, jedenfalls redeten sie mir gut zu – bloß meine Antworten, die waren wirr, weil der Geist zwar langsam wieder erwachte, aber noch ein Weilchen brauchte, bis er die Besetzer aus dem Turm getrieben hatte und so zumindest Semi-Funktionstüchtigkeit erreichen konnte. „Ich bin von der Presse“, sagte ich, „seht ihr das nicht, ich trage doch einen Hut.“ Wofür ich schreiben würde? „Die Brucklyn Daily Mail, täglich zu ihren Diensten, die Stimme des langsamen Verfalls und des Endes aller Tage.“ Nie gehört. „Was? Goddamnit! Ihr seid mir so welche.“ Was ich denn da so schreiben würde? „Ach nur über Musik, das bisschen Klingbim, Lalala, ihr wisst schon. Über die Humpty-Dumpty Gospel Singers und ihr einsames Mariachi-Orchestra am Ende der Nacht.“
Der Zug. “Ja, das könnte der Zug sei, sehe ich ähnlich.“ Hatte ich eigentlich ein Ticket? Das war eine entscheidende Frage, ich konnte sie nicht beantworten – die Frage erschien zu diesem Zeitpunkt allerdings auch weniger relevant, wie sie es später vielleicht sein würde. Aber nun denn. Die Damen begleiteten mich bis Fürth, ich wünschte einen angenehmen Samstag und ritt alleine dem Licht des dämmernden Morgen entgegen.
Und dann Ärrrlangn, finally, jetzt war es aber auch gut. Während ich das kleine Häuschen mit dem Zaun ansteuerte, unter dessen steilem, schrägem Dach ich hause, kam meine Vermieterin aus der Tür, um mit ihrem Roller irgendwohin zu fahren. Sie grinste, als sie mich daher trotten sah. „Die Nacht durchgefeiert?“, erkundigte sie sich.
„Ja, vielleicht, aber ganz so sicher bin ich mir da nicht.“
Womit wir am Anfang wären, erneut. Die beiden Kater sind erschöpft und lassen ihr anstößiges Treiben langsam sein während ich das schreibe, die Sonne scheint auch wieder in angenehmer Herbstmilde. Ich höre ein bisschen The Jesus and Mary Chain und trage mich mit dem Gedanken, vielleicht in absehbarer Zeit was zu essen, als mir das Fehlen der obligatorischen Beule in der Gesäßtasche meiner Jeans, die da so unbedarft über dem Stuhl hängt, seltsam ins Auge sticht. What the… Ein kurzes wildes, berserkerndes Herumsuchen fördert rasch die Erkenntnis zu Tage, dass der Geldbeutel dem gierigen Schlingen und Schmatzen der Nacht zum Opfer gefallen. Wie zum Henker konnte das passieren? Ich durchforste meine Erinnerung, aber da ist nichts, da ist nichts, da ist überhaupt nichts.
Überarbeitet von Manuel Weißhaar