„Hikikomori“ am Gostner Hoftheater

Was muss geschehen, damit sich jemand für Jahre in seinem Zimmer einsperrt, aufhört, sich regelmäßig zu waschen, aufhört, in Interaktion mit Anderen zu treten, hinter seinem Computer oder Fernseher verschwindet und sich nur noch von fastfood ernährt? Was muss geschehen, damit solch ein Phänomen zur Volkskrankheit wird? Was für eine Gesellschaft muss das sein?

Ich meine, wir kennen das: Man nennt es Winterdepression oder die Eigenart von Kellerkindern, kleinen Nerds, die nicht mal fürs Essen ihren Computer verlassen. Maximal kennen wir noch das berüchtigte Burnout-Syndrom, welches immer öfter unsere hiesigen Lehrer und andere Berufsgruppen befällt. Aber das sind Phasen und die halten nicht jahrelang an. Bei Winterdepression hilft Ingwertee und eine Rotlichtlampe, bei Kellerkindern kommt irgendwann die Mama und schaltet den Computer aus: „Genug jetzt. Geh mal raus.“

Aber in Japan ist das anders. Da leben inzwischen eine Million junge Menschen allein in Tokyo, vorwiegend junge Männer zwischen 25 und 35 Jahren, die für Jahre nicht aus ihren Zimmern kommen, man nennt sie Hikikomori. Sie halten dem Druck, der auf ihnen lastet, nicht Stand und verkriechen sich, in der Hoffnung, das da draußen alles vergessen zu können. Nach dem Motto: „Lasset diesen Kelch an mir vorüberziehen.“ Die Eltern können in diesem Fall nicht viel machen. Weder gut zureden, noch betteln, noch physische Gewalt helfen. Aber es gibt bereits Anlaufstellen für verzweifelte Eltern, Hilfsstationen, die ihr Bestes geben, Kontakt zu den jungen Menschen aufzunehmen und ihnen die Welt wieder schmackhaft zu machen.

"Hikikomori"

Sören Canenbley als H.

Der junge Holger Schober – auch der Autor von „Clyde und Bonnie“ – beschäftigt sich in seinem gleichnahmigen Stück mit den Hikikomori. Angelegt als Ein-Mann-Stück schreibt er über den jungen Mann H., der seit acht Jahren in seinem Zimmer haust und der sich schon lang einfach nicht mehr aus dieser schützenden Kapsel heraus traut, der alle Spiegel zertrümmert und sein Gesicht im Klo herunter gespült hat, um sich selbst lieben zu können, der im Grunde von der Vergangenheit träumt und von der Zukunft, aber der den Schritt vor die Tür nicht wagt. Als er im Chat ein junges, lebensfrohes Mädchen trifft, fängt er an zu hoffen. Doch der Blick, den er ihr schenken soll, für den er sich aufrafft, bereit macht, hinauszugehen, wird für ihn ein Schock, der ihn sich noch tiefer in seinem Schneckenhaus verkriechen lässt.

Weder die Schwester, die über Chat versucht, ihren Bruder zu erreichen, noch die Mutter, die durch die Tür erst bettelt, dann schimpft, dann zetert und schließlich sich als Mutter lossagt, sieht man auch in der Inszenierung Baris Karademir am Gostner Hoftheater. H. öffnet nach 50 Minuten die Tür zum Flur und sinkt wie in Trance zurück auf sein versifftes Bett, zurück zu seiner Tastatur, zurück in die virtuelle Welt zu rosebut und motherfucker.

"Hikikomori" am Gostner Hoftheater

"Hikikomori" am Gostner Hoftheater

Die Inszenierung brilliert neben dem Schauspieler Sören Canenbley mit einem Bühnenbild, das besagt: Sein Leben spielt sich auf der Tastatur ab. Einfach, aber gekonnt. Bett, T-Shirt, Jogginghose und Haare sind speckig und ranzig-fettig. Zur Hälfte der Aufführung schüttet sich H. sechs Packungen Apfelmus über Kopf, Bauch und Rücken, mit Holger Schobers Worten: „Früher habe ich Äpfel gehasst.“ Der Text wird in dieser Inszenierung immer wieder unterbrochen von Videosequenzen, Traumsequenzen und körperlichen Ausbrüchen – ein kleines Stück Tanztheater.

Außer der zwei Mal auftauchenden asiatischen Musik hat diese Inszenierung nicht mehr viel mit Japan zu tun. Aber das ist ja gerade das Spannende: Warum sollte eine solche Krankheit nur Japan befallen? Vielleicht hat Holger Schober diese Form der Einsiedelei auch in unseren Breitengraden schon ausfindig gemacht.

Wo sind sie, unsere Hikikomori?

Paula Linke

Ein Gedanke zu „„Hikikomori“ am Gostner Hoftheater

  1. Erlebe gerade dieses Phänomen (Hikikomori) selbst an meinem mittlerweile doch schon 26 jährigen Sohn, der sich seit dem Ende des vergangenen Jahres (Dez.2016) komplett von der Außenwelt, wie auch von mir, uns, der Familie abgeschottet, ausgegrenzt und sich nur noch in seinem Zimmer eingeigelt, isoliert hat.
    Bin am Ende mit meiner Kraft und suche ernsthaft und akut nach professioneller Hilfe für ihn, wie auch für mich, um mit dieser Situation daheim überhaupt und womöglich auch noch nicht absehbar in naher Zukunft, dann noch länger damit auch klarkommen zu können.
    Wer kann mir da weiterhelfen: Anlaufstellen etc. und bitte nur ernstgemeinte Antworten, denn mein Nervenkostüm ist selbst nur noch zart besaitet..!!!
    Diese Machtlosigkeit gegenüber dieser Situation macht mich als Mutter mehr wie traurig und deprimierend, ja sogar manchmal wütend und wenn ich dabei nicht wirklich auch auf mich noch schaue, dann könnte oder würde sogar mir noch dieses Leid/ ja Qualen widerfahren, so wie sie ja wohl auch mein Sohn erfahren und erleben muss und genau das, kann und darf mir nicht passieren, denn was wird dann aus meinem Sohn???
    Bitte, wenn es da jemanden gibt, der ähnliches erfahren hat oder durchmacht, bitte melde dich bei mir und viell. gibt oder findet man doch noch einen Weg aus dieser Isolation.
    Danke
    Eine hilflose Mutter

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