Wie die Ölsardinen quetschte sich beinah die gesamte Dozentenschaft der Germanistik anlässlich einer Lesung von Ulrike Draesner in das Theatercafé in Erlangen. Als die sympathische Autorin dann das Podium betritt, hätte man eine Stecknadel fallen lassen hören. Sie versucht mit einer lockeren Geschichte aus ihrem Alltag die Stimmung aufzuheitern, doch das Publikum wird nur langsam mit ihr warm. Erst ihre eindeutige Aufforderung: „Sie dürfen auch lachen“ scheint das Eis zu brechen. nur um es von der Wirkung ihrer Texte wieder gefrieren zu lassen. Ihre erste Erzählung „Zarte Ration“ aus dem Band „Richtig Liegen“ beginnt mit einer leichten Liebesgeschichte, die schnell zu einem beklemmenden Schwergewicht ausartet. Birte und Ed verlieben sich. Beide sind keine Elfen, doch Ed nimmt in dem Jahr ihrer Beziehung zu bis zur körperlichen Behinderung. Es geht um die Vorurteile, die man Fettleibigen unterstellt, um das Gefühl eines weichen, verweichlichten Körpers, um die Schwierigkeiten, nur auf dem Bauch liegen zu können, weil man sonst fürchtet, das Herz könnte stehen bleiben. Und es geht um die Macht, die Birte auf Ed ausübt, nachdem er sich in einen Zustand der absoluten Hilflosigkeit gebracht hat.
Ich fühle mich wie in einer billig produzierten Abnehmshow auf einem der anspruchsloseren Fernsehsendern. Abnehmtrainig in literarischer Form. Man kann weder hin- noch weggucken. Draesners Erzählung artet zu einer Freakshow aus, in der der Zuhörer auf den Protagonisten herabblicken kann, „Guck mal, ich bin normal, ein Glück, dass ich nicht so bin wie der, wie undiszipliniert, so werde ich nie sein“. Das leise Lachen aus dem Publikum über Vergleiche mit Nilpferden und Beschreibung von fetten Leibern weicht einem mitleidigen Schnauflachen. Schon grotesk, aber darf man darüber wirklich noch lachen? Ich stehe vor einem moralischen Dilemma. Im Grunde sind wir doch alle nur Voyeure.
„Ich suche nicht das Tabu, manchmal sucht das Tabu nach mir.“ Unter dem Motto scheint die Dichterin, Essayistin und Prosaautorin Ulrike Draesner ihre Texte zu schreiben. Ihre Themen drehen sich hauptsächlich um Körper und Raum. Sie sucht die Lücken im System, bewegt sich nur wenige Zentimeter neben der Realität und neigt lediglich zu kleinen Übertreibungen. Draesner spricht Inhalte an, über die man bis heute normalerweise nicht spricht. So auch in ihrem zweiten Text, „Josef rennt“. Der Tatort ist dieses Mal ein Pflegeheim. Josef wohnt dort und lässt unter den Damen im Heim seinen Charme spielen. Er isst ihren Kuchen, weiß genau, wie er sie rumkriegt. Sie sind die besten Sexpartner, sie sind vergesslich, wollen danach nicht reden. Deswegen ist er schon als „Ficki, Ficki“ verschrien. Anfangs ist sein Status unklar: Ist er Pfleger, ist er Bewohner des Heims? Inwieweit machen die Frauen freiwillig mit, wenn er eine Stuhllehne unter die Klinke schiebt, inwieweit können sie sich alter Gebrechen wegen nicht mehr wehren? Auch diese Geschichte ist grausam. Josef holt schleichend selbst die Alzheimer-Krankheit ein. Im Heim werde ständig gebaut, wundert er sich, Gänge sind dort, wo sie nie waren, genauso wie diese eine Glastür. Die Möbel werden oft ausgewechselt, das Personal wechselt häufig. Er beginnt wunderlich zu werden, sucht seine verstorbene Frau ohne Schuhe in der Stadt, indem er mit der Trambahn herumfährt. Eine Schwester bringt ihn zurück. Liebe im Alter, auch das ist in Zeiten des heutigen Jugendwahns ein Thema, das unter den Teppich gekehrt wird. Dabei ist es Realität.
Diese Probleme und Tabus findet sie spannend, und sie kann auch nur über etwas schreiben, was sie auch reizt. Das deckt sich nicht immer mit den Wünschen ihres Verlags, doch das stört sie nicht. Die in Berlin lebende Autorin strickt subtil zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechte, die nicht nur an der Oberfläche kratzen. Wer sich traut, in gesellschaftliche Abgründe zu blicken, sollte unbedingt Ulrike Draesners Bücher konsumieren.
„Richtig Liegen“, gebunden, 256 Seiten, Luchterhand Verlag, 18,99€
Johanna Meyr
„Ich suche nicht das Tabu, manchmal sucht das Tabu nach mir.“
Unter dem Motto scheint Ulrike Draesner ihre Texte zu schreiben.