Für Leser aller Fakultäten: Der Bericht aus dem Auge des Hurricanes

Gipfel-Stürme, die Autobiografie Heinrich von Pierers ist lesenswert aus mindestens drei Gründen. Erstens: Eine Jugendsünde kann in Erlangen, wenn man dazu steht, der Einstieg sein in einen Weltkonzern. Nach einem nächtlichen Sprung in seinen Swimmingpool sagte dessen Besitzer zu Heinrich von Pierer, als dieser sich für die Ruhestörung entschuldigte, er solle sich wieder vorstellen wenn er sein Studium beendet hat – der Mann arbeitete für Siemens und von Pierer seit diesem Tag auch… wäre der Sprung ins Nass nicht schon 1969 erfolgt, wir könnten ihn sicher heute noch auf YouTube sehen. Zweitens: eine an der FAU erworbene Doppelqualifikation eröffnet nicht nur größere Chancen, sondern einen weiten Horizont. Der dritte Grund kommt zum Schluss.

Autorenfoto Ullstein verlag

Heinrich von Pierer nach überstandenen Stürmen, Foto: Hans Scherhaufer

Die erste große Herausforderung für den Kaufmann und Juristen war, heute unvorstellbar, ein Kernkraftwerk in den Iran zu verkaufen. Die Baustelle in Bushehr existiert wohl heute noch, aber von der Bundesregierung gibt es keine Exportgenehmigung mehr. Damals unter dem Schah war die Kernenergie dort sehr willkommen, für Chomeini war sie ‚Teufelswerk’ und in den letzen Jahren war die Technologie für den Iran ein begehrtes Prestigeobjekt. Risiken und Nebenwirkungen liefern ja in diesem März alle Medien live aus Japan. Von Pierer erzählt in den Gipfel-Stürmen in Zusammenhängen, die über Ländergrenzen und die Reihenfolge der Kapitel hinausgehen. Und er erklärt hochkomplexe Systeme vom Mikrochip bis zum Atomkraftwerk anschaulich und verständlich von der Funktion und Herstellung bis zum Betrieb. Jederzeit bleibt es dem Leser überlassen, eine andere Meinung zu haben und dennoch weiter zu lesen. Obwohl wie üblich in dem Genre mehr als zwei Hände an dem Text gestrickt haben, ist das Werk am Anfang und am Ende etwas sperrig zu lesen. Dazwischen fallen die Stufen der Karriereleiter aus Interesse an der Sache gar nicht auf. Von einem Privatleben erfährt die Leserin, der Leser, Folgendes: von Pierer hat eine Familie. Ein Foto zeigt ihn als Bayerischen Jugendmeister im Tennis 1959. Sein Arbeitsleben ist interessant genug, allerdings überwiegend eine Männerwelt.

Von den Erfahrungen als Sportberichterstatter für die Erlanger Nachrichten über Gehälter und Verhandlungen bis zur Korruption bei Siemens spielt eine große Rolle: das Geld, wobei der Autobiograf auf fairness Wert legt. Aufrichtig und ausführlicher als Erfolge werden persönliche Missgeschicke und Misserfolge wie das Schicksal einer Halbleiterfabrik in Nordengland erzählt, die nach einem Jahr wieder geschlossen werden musste. Die Wir-Form, die oft vorkommt, wirkt natürlich, weil von Pierer bei jedem Geschäft dem Leser die Kollegen vorstellt, mit denen er zusammen gearbeitet hat. Daraus entsteht manchmal der Eindruck, die Autobiografie von Siemens zu lesen, auch weil von Pierer auf die Tradition des Hauses und die Anfänge des Firmengründers eingeht.

Auch Humor steckt in dem Buch, und sei es die mäßige Begeisterung, einmal im Jahr die Münchner Olympiahalle mit der Siemens-Hauptversammlung zu unterhalten – aber dem Bemühen, jedem Fragensteller, besonders jeder Fragenstellerin gerecht zu werden. Vom Vorstandsvorsitz wechselte von Pierer in den Aufsichtsrat und erzählt weiter aus höherer Warte, abgesehen von der Korruptionsaffäre, in deren Verlauf er zurückgetreten ist. Der Auftakt und das Ende des Buches sind geprägt von seinen Rechtfertigungen. Von Pierers Dilemma: sich keiner Schuld bewusst zu sein und dennoch einen Bußgeldbescheid zu unterschreiben, um einen weitaus umfangreicheren Prozess zu verhindern. Das Verfahren wirkt etwas wie ein Ablasshandel im Spätmittelalter, das auch die Zeit des Frühkapitalismus war – gerecht ist der Mensch nach Martin Luther allein aus Glauben.

Ein Glanzstück, sozusagen der Gipfel des Buches ist das Kapitel über „China: Marktanteile im Tausch gegen Technologie“. Wie der Transrapid nach Shanghai kam, wer daran beteiligt war bis zur (fast) störungsfreien Jungfernfahrt, könnte man so unterhaltsam und teilweise komisch gar nicht erfinden. Gleichzeitig ist es spannend als Beispiel für das Prinzip Wandel durch Handel. Siemens ist in China seit dem 19. Jahrhundert präsent und gut angesehen. Was von Pierer ermöglichte, mit der chinesischen Regierung über Menschenrechte zu sprechen und sie Schritt für Schritt an Journalisten zu gewöhnen, war sein persönliches Bemühen, zuerst den Standpunkt seiner Gastgeber zu verstehen. Die zuvor lakonisch erwähnten Gespräche über die Philosophie Hegels legen nahe, dass Veränderungen doch im Denken entstehen… sind wir ehrlich, wer mit Deutsch als Mutterspache ist heute noch in der Lage G.W.F. Hegel zu lesen (der Rezensent nicht), geschweige denn über ihn zu parlieren? That’s understatement, wie auf Geschäftsreise in Großbritannien auch. Von Pierer engagierte sich in Erlangen als Stadtrat, nach der Wiedervereinigung für den Aufbau in Ostdeutschland, später in Asien für Handelsbeziehungen, die gleichzeitig auch menschliche Beziehungen sind – und erzählt davon als wäre das alles selbstverständlich.

Heinrich von Pierer hat die Stürme der Gipfel hinter sich gelassen. Als Fünfjähriger konnte er vom Burgberg aus die Zerstörung Nürnbergs sehen. Heute sieht er, was jeder Spaziergänger sehen kann: Erlangen floriert und bildet mit Nürnberg das ‚Medical Valley’. Wie auf einem Schachbrett erscheinen neben den Türmen der Alt- und der Neustadt die für Siemens-Mitarbeiter entstandenen Türme in Büchenbach, wie  Schwerfiguren der Himbeer- und der Glaspalast und gering in der Höhe, aber nicht in der Wirkung die Medizintechnik im Röthelheimpark.

Der dritte Grund, das Buch zu lesen: Das „top“-Programm, das Siemens 1998 nach dem Nordengland-Debakel von Dr. von Pierer verordnet bekam, war auf zwei bis drei Jahre angelegt. top für „time optimized processes“, kann auch für die persönliche Studien- oder/und Lebensreform angewandt werden. Es wirkt nötigenfalls auch binnen drei Tagen.

Thomas Werner

Heinrich von Pierer, Gipfel-Stürme – Die Autobiografie, Econ Verlag Berlin 2011. 24,90 €

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