Hals über Kopf aus dem Bauch heraus

Das höchste Maß der Nüchternheit. Ein Song für die Nachfahren aller Hugenotten. Ein ausschweifender Diskurs über die Verkehrslage in Erlangen. Unfreundliche Mittelschichtler in den Fünfzigern. Die unvermeidliche Bier-Debatte. Klassenkampf-Parolen. Übermäßiger Wodkakonsum. Wüste Beschimpfungen. Der obligatorische Tomte-Diss. Und viele, viele  Songs aus dem „Potpourri der schlechten Laune“ – Was das alles soll? Das ist nun recht schnell erklärt: Herrenmagazin, die Band mit dem schlüpfrig klingenden Namen und der dazu gar nicht mal so passenden Musik, gastierte im E-Werk. Ein Spektakel? Aber sicher doch!

Aber wir wollen nicht vorgreifen. Stattdessen gilt es erst einmal, brav der Chronologie des Abends Folge zu leisten, was wiederum bedeutet Love Sandwich Orchestra, die als kurzfristig eingesprungene Vorband agierten, einige Zeilen zu widmen – eine Pflichtübung, die sich nicht in zwei Minuten abhandeln lässt und somit länger dauert als ein durchschnittlicher Song des Duos. Es bedarf allerdings drei bis vier Songs (und damit eigentlich ziemlich lange), bis der Rezensent hier durchschaut hat, dass dieser krachledern fröhliche Drei (und manchmal auch nur zwei) -Akkord-Punk-Pop mit lyrisch sensationellen Zeilen wie „Party on…“, „Get Naked…“, „FunFunFunFunFun…“ oder auch mal „YeahYeahYeahYeahYeah…“ so gar nicht ernst gemeint ist. Drängende Fragen, zum Beispiel wo Love Sandwich Orchestra dies und jenes nun wieder geklaut haben und welcher Song der Ramones gerade gespielt wird, erübrigen sich damit. Ob das alles lustig ist? Naja, zumindest ein Weilchen.

Bevor das ohnehin höchst überschaubare Publikum  wieder gen Keller strebt, wo das Gerüchten zufolge gar nicht mal so unspannende DFB-Pokalspiel zwischen Schalke und Nürnberg übertragen wird, entschließen sich Herrenmagazin kurz nach 22.00 Uhr, die Bühne zu betreten – begleitet von einem schief mit Mariachis intonierten und lallend vorgetragenen Biene Maja-Titelthema. Ein früher Querverweis auf den Umgang der Band mit Alkohol.  „Erinnern“ heißt schließlich das erste Stück, das zweite ihres Ende letzten Jahres erschienenen Albums „Das wird alles einmal dir gehören“ und zusammen mit dem darauffolgenden „Atzelgift“ beinhaltet es schon alles, was einen Song von Herrenmagazin ausmacht: Die Dringlichkeit, die leise Romantik und die Melancholie, die eine deutschsprachige Indierockband aus Hamburg traditionell mitbringen muss.

Mit dem Intellektualismus und der obligatorischen Verweigerungshaltung von Tocotronic oder dem dichterischen Dandytum von Blumfeld, den beiden Hauptvertretern der „Hamburger Schule“, haben Herrenmagazin dabei wenig gemein, dafür deutlich mehr mit deutschen Indie-Institutionen wie Kettcar – Ehrlichkeit und Authentizität sind die beiden reichlich abgedroschenen Schlagwörter, die einem dazu einfallen, dazu Bartresen-Charme, Aufrichtigkeit und eine gepflegte „You know, we’re just some guys“-Attidüde. Die klugen Texte von Sänger Denis Jaspersen kreiseln um die ermüdende Eintönigkeit des Alltags, das Leben als angekommener, aber doch irgendwie gestrandeter Jedermann und dessen Suche nach Sinn und Wahrheit, die so oft ziellos endet, so dass lediglich ein Gefühl seufzender Melancholie verbleibt. „Inzwischen bin ich ziemlich müde und ich gewöhne mich daran, dass man egal, was man auch anstellt, diese Art von Spiel nur verlieren kann“, heißt es im gelungenen „Früher war ich meistens traurig“ – man gibt sich desillusioniert, man klagt leise, aber das ist schon okay so, irgendwie.

Der Ernsthaftigkeit der Texte stehen an diesem Abend die simplen Freuden des Band-Seins gegenüber, als könnten die Bandmitglieder das Glück, tatsächlich mit ein bisschen Musik ihren Lebensunterhalt zu verdienen und noch besser, damit touren zu können, noch immer kaum fassen: Trinkgeschichten werden ausgetauscht, das „höchste Maß der Nüchternheit“ deutlich unterschritten und auf die schüchterne Zurückhaltung des Publikums mit einem grinsenden „Stimmt, bei euch ist ja Dienstag“ reagiert. Ach Jungs.

Zwischen den Songs nimmt sich die Band indes Zeit für Witzchen aller Art. Die Erlanger „Mittelschicht“, die „mit ihren Mittelstandslimousinen“ die Parkplätze der Stadt blockiert, bekommt ebenso ihr Fett weg wie Tomte-Chef Thees Ulmann, über dessen Selbstbezeichnung als „letzter großer Wal“ sich Jaspersen gestenreich amüsiert. Auch der Fußball-Fetisch einiger Zuhörer bleibt nicht unkommentiert: Als Schlagzeuger Rasmus Engler scherzeshalber vorschlägt, dass man die anstehende Verlängerung ja auf dem IPhone verfolgen könne, quittiert Gitarrist „König Wilhelmsburg“ das mit einem deutlichen „Ist doch nur der Scheiß-DFB-Pokal“ – was ihm prompt Buhrufe und einige Schmähungen einbringt.

Hemmungen gibt es also keine, ein jeder darf mal loswerden, was er will. „Hals über Kopf aus dem Bauch, blind und vorlaut, ein Paradeabsturz, immer geradeaus“ heißt es in „Hals über Kopf“, dass an diesem Abend vortrefflich gelingt – Zeilen,  die  auch das  alkoholgeschwängerte Frei-Schnauze-Auftreten der Band treffend umschreiben. Letzteres täuscht dann auch so manches Mal darüber hinweg, wie perfekt eingespielt Herrenmagazin an diesem Abend eigentlich klingen: Präzise und klar, ohne Schnörkel und instrumentale Spielereien, aber mit ungeheurem Druck und viel Körpereinsatz werden die Gitarrenriffs aus den Verstärkern gepresst, so dass Wilhelmsburg ein ums andere mal sein Dirk von Lotztow-Gedächtnispony aus dem verschwitzten Gesicht streichen muss.

Derartiger Enthusiasmus springt irgendwann auch auf das lethargischste Publikum über, was zur Folge hat, dass die Band nach dem regulären Ende und dem Ausklingen von „Krieg“  noch zur Zugabe auf die Bühne zurückbeordert wird. Nach zwei weiteren Songs aus dem „Potpourri der schlechten Laune“, wie Jaspersen das eigene Schaffen beschreibt, einem gestürzten Bier und zwei ominösen Toilettenbesuchen beenden Herrenmagazin schließlich ihr Erlanger Gastspiel mit einer brachialen Version von „Kein bisschen aufgeregt“, dessen Feedback noch ertönt, als die Band längst verschwunden ist – der lange Nachhall eines überaus gelungenen Abends.

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