Normalerweise geht man ins Theater und hat wenigstens eine ungefähre Ahnung, für welches Stück man seine Karte gekauft hat. Schiller, Kleist, Pollesch, wie auch immer. Nicht so im Experimentiertheater, und schon gar nicht am 18., 20. und 21. Januar. Das Werbeplakat zeigt ein längeres Textfeld, und auch dort steht nicht eindeutig geschrieben, worauf man sich einlässt: „Um was es geht, weiß ich nicht … irgendetwas mit ‚das Ende der Welt’“. Aha.
Zu Beginn wurde man erst mal abgelichtet. Ich komme mir vor wie im Gefängnis, nur das hinter mir an der Wand keine Messlatte hängt. Außerdem werde ich mit einer Nummer versehen. Alle machen brav mit und folgen etwas ratlos dem japanischen jungen Mann, der in seiner Landessprache die Gäste auf ihre (Steh-)Plätze verweist. Stühle gibt es keine, die linke Hälfte der Bühne ist mit Malerfolie abgehängt. Auf der anderen Seite stehen zwei Tische, es hängen zwei Lampen à la alter Krimi-Verhör darüber herab, ein viereckiger Rahmen ist darum herum abgeklebt, an dem entlang sich die Zuschauer aufstellen sollen.
Acht weitere Akteure stehen, alle in grau-schwarzem Pullunder gekleidet, je vier auf jeder Seite, hochkonzentriert vor sich hin brabbelnd, mit einem Klemmbrett in der Hand. Nur mit Mühe kann ich irgendwelche Zahlen vernehmen, und das Wort „Yen“. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sich Elisabeth (Elsa) Lindig und Lukas Wilde inspirieren ließen von Haruki Murakamis Buch: „Hardboiled Wonderland“.
Es geht um die Entropie, das Ende der Welt, in das die Menschen unweigerlich stürzen werden. Glücklicherweise wurde ein System entwickelt, das den Kenntnisstand des Gedächtnisses speichert, um die Menschen in eine Art Paradies zu retten. Natürlich können nicht alle gerettet werden. Wessen Kenntnisstand gerettet werden kann, hängt davon ab, wie man in den Tests abschneidet, die man absolvieren muss.
Es geht um lebensnahe Alltäglichkeiten, mit denen jeder eine Erinnerung verbindet, so Elsa. Es wurden drei Räume geschaffen, einmal der Testbereich, das Paradies, das man anstrebt, und die Zufälligkeit der Zuschauer, die nicht steuerbar sind. Es werden Fragen gestellt, deren Antworten nicht vorhersehbar sind.
Das gerade ist das Spannende an diesem Abend. Soll man ehrlich antworten? Darf man auch lügen? Man befindet sich ja schon in einem fiktionalen Raum, warum keine Figur erschaffen? Die Meisten beantworten die Fragen ehrlich, ich gehöre auch dazu. Obwohl einem schon persönliche Fragen gestellt werden: Erinnern Sie sich an Ihrem letzten Traum? Haben Sie in den letzten fünf Jahren etwas bereut?
Doch was bedeutet eigentlich diese Leinwand, die irgendwie lila leuchtet und worauf manchmal gelbe Zeichen erscheinen? Live werden aus den Fotos, die am Anfang gemacht wurden, Klangbilder erstellt, von den Glücklichen, deren Gedächtnis gesichert werden konnte, und dann audiovisuell auf einer Leinwand präsentiert. Daher wird generell viel mit Geräuschen gearbeitet: es wird gepfiffen, gesungen, es gibt Durchsagen. Manchmal tönt es hart an die Schmerzgrenze und ich bin versucht, mir die Ohren zuzuhalten.Ich selbst war einer der ersten, die ins Paradies einziehen konnten. Dort gab es in verschiedenen Nischen beruhigende Landschaftsfilme, selbst gedreht von einer verlassenen Gegend im Sächsischen Vogtland und Sitzsäcke. Ganz nett. Aber irgendwann auch ziemlich langweilig. „In den letzten Vorstellungen sind manche Zuschauer auch wieder zurückgekommen und haben wieder bei den Tests mitgemacht“, sagt Elsa. „Das ist aber gar nicht schlimm, es gibt keine „falsche“ Publikumsreaktion. Das ist hier alles wertfrei. Ich freue mich über jede Reaktion.“ Sie fühlt, als wäre ihre Performance ein sich verselbständigendes Gewächs und sie selbst hätte keinen Einfluss mehr darauf. Am liebsten würde sie es noch hundert Mal aufführen, sagt sie, doch heute war die letzte Vorstellung.
Schade eigentlich. Ich hätte auch lieber noch mal ein paar Psychotests gemacht. Nur, weil ich so gerne Kreuzchen auf Fragebögen setze.
Doch Lukas Wilde und Elsa Lindig werden wohl noch das ein oder andere Projekt starten, auf das wir gespannt sein dürfen!
Johanna Meyr