Die Bezeichnung Liedermacher galt bis vor gar nicht allzu langer Zeit als hoffnungslos veraltet, spießig und abgeschmackt – Liedermacher, dass waren Reinhard Mey, Wolf Biermann oder Konstantin Wecker, lebendige Anachronismen ohne Bezug zur popkulturellen Gegenwart, in welcher stattdessen (in stattlicher Zahl) der Singer/Songwriter reüssiert. Was natürlich Blödsinn ist. Denn strenggenommen sind auch die mittlerweile überaus erfolgreichen Herren Gisbert zu Knyphausen, Philipp Poisel oder Clueso Liedermacher, ohne dass es jemand aussprechen will. Und auch Raphael Kestler ist einer. Zumindest eine Zeit lang.
Bevor seine Band Jamais Vu nach einigen Songs zu ihm stößt, beackert Kestler eben jenes Feld, dass auch die oben aufgeführten Herren zumeist bearbeiten – zurückhaltenden, akustischen Songwriter-Pop in deutscher Sprache, der die Melancholie des Alltags festzuhalten versucht und dabei an das Schaffen der bereits genannten, aber auch an Nils Frevert und Blumfeld in ihrer Spätphase erinnert. Die ausdrucksstarke Stimme, die der von Blumfeld-Chef Jochen Distelmeyer gar nicht mal so unähnlich ist, trägt die ruhigen Stücke dabei mühelos und auch sonst muss sich Raphael Kestler hinter den großen Vorbildern nicht verstecken.
Als sich das Publikum im E-Werk dann überwiegend auf einen geruhsamen Abend zu gediegenen Klängen eingestellt hat, kündigt Kestler unaufgeregt an, die nächsten Stücke fortan mit seiner Band bestreiten zu wollen – wer nun aber eine dezente Elektrifizierung und instrumentale Verstärkung des bisherigen erwartet hat, tat gut daran, sich nicht an seinem Rotwein zu verschlucken, denn der Kontrast zum Bisherigen hätte kaum größer ausfallen können.
Die Zeiten, in denen Künstler aufgrund radikaler stilistischer Metamorphosen Buhrufe, Gezeter und Judas-Schmähungen einstecken mussten wie weiland Bob Dylan, sind bekanntlich lange vorbei, schließlich wird zeitgenössischer Pop ohnehin aus jedweden noch so widersprüchlichen Genre-Versatzstücken zusammengeschraubt, aber dass sich melancholischer, deutscher Songwriter-Pop mal eben in englischsprachigen, groovenden Funk mit französischem HipHop-Einschlag und Rage Against The Machine-Anleihen transformiert, hat der Verfasser dieser Zeilen so auch noch nicht erlebt.
Nun mit einer Frontsängerin versehen, die zusätzlich zum Gitarristen/Sänger Kestler agiert, spielen Jamais Vu elegant das Laut/Leise-Spielchen, lassen auf gediegen poppige Strophen kraftvolle Refrains und immer wieder ungeheuer dynamische Funkparts folgen, die wiederum mit aggressiven französischen, rap-artigen Shouts befeuert werden – eine durch glasklaren Sound gestützte, hochgradig infektiöse Mischung mit unmittelbarer Wirkung auf Gehör und Beine.
Das kostet Kraft und strapaziert die Stimmbänder, weshalb seitens der Frontsängerin alsbald um ein Bonbon zur Schonung des Halses gebeten wird – eine Aufforderung, die zunächst nicht weiter ernst genommen wird, bis sie mit Nachdruck darauf hinweist, dass das ganze keine scherzhafte Interaktion mit den Zuschauern sein soll: „Im Ernst, meine Stimme ist voll scheiße.“ Auf diese energischen Worte hin wird schließlich umgehend ein Bonbon aus dem Publikum gereicht. The show must go on und sie tut es auch – Jamais Vu entwickeln mit zunehmender Konzertlänge eine unüberseh- und unüberhörbare Spielfreude, präsentieren prägnant betitelte Songs wie „Zero“, „Judas“ oder „Thea“ mit Energie, Groove und Verve und obwohl sie verkündet, dass der letzte Song des regulären Sets zugleich die Zugabe sei, wird die Band mit frenetischem Applaus noch zweimal auf die Bühne gebeten – der gerechte Lohn für einen bisweilen geradezu begeisternden Auftritt.
Und auch wenn der Vergleich ein wenig unfair ist: Der „Liedermacher“ Raphael Kestler verblasst im Schatten von Jamais Vu fast ein bisschen – aber das ist wohl der Preis, den man bei einem solch radikalen Stilwechsel zahlen muss.
Manuel Weißhaar