Abgebrochenes Studium, annähernd zehn Jahre kokain- und heroinabhängig, bis Mitte dreißig keinen Beruf gelernt und mit einem Bein im Gefängnis – eine gescheiterte Existenz? Der junge Mann ist heute 67 und damals wie heute ein Rolling Stone. Keith Richards hat alles und sein eigenes Image überlebt, um sein Leben zu erzählen, lakonisch, selbstironisch und ohne zu beschönigen. Seine Autobiografie Life ist für mich das Buch des Jahres. Es beginnt mit einer haarsträubenden Festnahme in Arkansas Mitte der 70er Jahre und endet am Sterbebett seiner Mutter, der Richards ein Lied aus seiner Kindheit vorspielt.
Life liest sich wie ein Entwicklungsroman mit dem anfänglichen Ziel, aus der Kleinbürgerhölle der Nachkriegszeit zu entkommen. Keith hat von Anfang an sein Hobby zum Beruf gemacht, denn Anfang der 60er Jahre gab’s für ihn an der Kunsthochschule in London nichts anderes zu lernen als Gitarre zu spielen. Wie er aus seinen Notizbüchern von damals die Entstehung und ersten Erfolge der Rolling Stones rekapituliert, ist ein Stück Musikgeschichte aus erster Hand. Nebenbei werden die Lebensumstände ihrer ersten Wohnung in London beschrieben. Dass Keiths Mutter zu dieser Zeit Werbung für Waschmaschinen machte und für ihre Vorführungen regelmäßige Wäscheladungen aus der WG Jagger-Richards-Jones gut gebrauchen konnte, ist nur eine Anekdote von denen das Buch nur so blüht. Keith, Brian Jones und Mick Jagger wollten die beste Blues-Band Londons werden. Mit Charlie Watts und Bill Wyman haben sie es geschafft und seit ihrer ersten Amerikatournee den USA ihre musikalischen Wurzeln nahegebracht. Richards schildert seine Kindheit und Jugend so lebendig und detailliert bis zum Geruch der Dartforder Heide, dass deutlich wird: der Autor ist sich seiner Wurzeln bewusst und kann auch erzählen. Was an den Don Quijote oder an Tom Jones denken lässt sind die Kurzzusammenfassungen vor jedem der 13 Kapitel und der humorvolle Ton, der auch im Deutschen natürlich wirkt, drei Übersetzern sei Dank, darunter für dieses Buch prädestiniert der Bob Dylan – Fachmann Willi Winkler.
Der Co-Autor James Fox scheint nur an der Organisation des Erzählstoffs mitgewirkt zu haben, denn beim Lesen entsteht nicht der Eindruck dass es einen Co-Autor gibt. Wer jemals das Vergnügen hatte, ein Interview mit Keith Richards zu sehen oder zu hören, erkennt seine Sprache wieder – so unverkennbar wie er zeitlebens in die Saiten greift. Richards gibt in seiner Autobiografie Einblicke in seine Kunst, wie Songs von (I can’t get no) Satisfaction über Jumpin’ Jack Flash, Gimme shelter bis Start me up entstanden sind und warum einiges erst auf der fünfsaitigen Gitarre gelungen ist, wie das Songschreiben mit Mick Jagger funktioniert und wie sie an manchen späteren Alben mehr gegen- als miteinander arbeiteten. Manchmal überlässt Richards den Kommentar seinen Zeitgenossen, ein Perspektivenwechsel, der nicht immer vorteilhaft für ihn ist.
Die Zeit ab den 80er Jahren ergibt in drei Kapiteln wenig mehr als hundert Seiten. Von etlichen Welt-Tourneen werden nur einzelne Ereignisse herausgehoben. Seit einer lebensbedrohlichen Kopfverletzung, Folge eines Urlaubsunfalls, verzichtet der Autbiograf auf Kokain, so leicht als wäre es Schnupftabak, und hat bei den Konzerten danach, z. B. an der Copacabana vor 1,5 Millionen Menschen gezeigt: Er kann’s noch. Im Universum von Keith Richards gibt es keinen jetlag und seine Vorstellung von Himmel und Hölle ist mit jüdischer Weisheit ebenso verwandt wie mit der Sartres. Dass er in der Bibel manchen guten Spruch für Songtexte gefunden habe, ist – der Rezensent ist einschlägig vorbelastet – weniger eine Überraschung als Understatement.
Brian Wilson von den Beach Boys erzählt, er habe nach dem Ruhm in den Sechzigern zehn Jahre in seinem Bett verbracht, Keith Richards nach eigenen Angaben ungefähr ebenso lange im Delirium, und diese Zeit zu erzählen, nimmt ein Drittel des Buchs ein, bis zum mehrfachen Entzug. Um dauerhaft an pharmazeutisches, d.h. reines Kokain und Heroin zu kommen, hatte er gute Beziehungen zu Ärzten und Apotheken, oder zu Freunden die eine solche gekauft hatten. Fünf oder auch mal neun Tage am Stück wach zu sein, der manchmal erzwungene, von ihm künstlich erzeugte Arbeitseifer war eine Selbsttäuschung – Richards appelliert mehrfach, ihn bloß nicht nachzuahmen. Die zweite allgemein angenommene Bedingung der Möglichkeit von Rock’n’Roll, nämlich Sex interessierte ihn weniger als gute Gesellschaft. Das galt für die groupies unterwegs wie für seine Lebensgefährtin bis in die Siebziger Jahre, Anita Pallenberg, die für Drogen ebenso anfällig war wie er selbst.
Ordnung kam in sein Leben, als er Patti Hansen aus einer christlich geprägten Familie kennen lernte und sie heirateten. Die Geburt ihrer zwei Töchter bekennt Richards, habe sein Leben verändert. Von seiner heutigen Familie erzählt er so rührend wie am Beginn von seinem Elternhaus, und er verrät uns das Rezept seines Lieblingsgerichts. Wie es bei den Stones hinter der Bühne zugeht, dass ihm die anderen seinen Kuchen wegessen und andere Gemeinheiten, alles ohne Vorbehalt, aber mit Humor aufgetischt. Bebildert ist das Buch mit seltenen Portraits und Fotos wie aus dem Familienalbum mit Patti, Kindern und Enkeln auf der Wohnzimmercouch in Connecticut.
Life ist auch die Geschichte einer verlorenen Liebe. Die gesuchte Person ist im hilfreichen Register mehr als doppelt so häufig genannt als jede andere. In den Sechzigerjahren kam er auf kleinen Bühnen so gut an, war unglaublich charmant, konnte mit Sartre in Französisch debattieren – und hat sich heute von den anderen Stones „in einen Kühlschrank“ zurückgezogen. Trotz allen Streits in der Vergangenheit vermisst Keith seinen einstigen Kumpel Mick Jagger.
Life ist streckenweise ein ehrliches Geständnis und das Bekenntnis einer lebenslangen Leidenschaft für die Musik, das durch seinen Stil überzeugt.
Thomas Werner
Keith Richards, life, 736 Seiten, Heyne Verlag, München 2010, 26,99 €.