Der Osterhase übergab sich gerade in seine Badewanne, als Rudolph das Rentier anrief. Leicht taumelnd, sich den Rest des Erbrochenen aus dem Mundwinkel wischend, wankte er in Richtung des Telefons und blaffte einige nicht gerade als freundlich zu bezeichnende Worte der Begrüßung in den Apparat. Wieso musste dieser Idiot auch ausgerechnet jetzt anrufen, wo er doch gerade dabei war, einen gewaltigen Kater halbwegs auszukurieren, dachte der Hase. Aber Rudolph schien sich an seiner rauen Wortwahl nicht weiter zu stören, vielmehr drang seine Stimme schnell und überaus gehetzt aus dem Hörer. Man brauche dringend die Hilfe des Osterhasen, sagte das Rentier in angespanntem Tonfall. Er müsse vorübergehend für den Weihnachtsmann einspringen, der im Moment leider unpässlich sei. Der Osterhase schnaubte verärgert. Er wollte erst gar nicht wissen, wieso der fette Trottel mal wieder „unpässlich“ war, so wie er eigentlich überhaupt nicht in diese Sache hineingezogen werden wollte.
Aber Rudolph fuhr unvermittelt fort. Man habe den Weihnachtsmann vor einigen Stunden am Flughafen festgesetzt. Er sei auf der Toilette gewesen, um sich den Schnee abzuklopfen, und habe seinen Sack in der Flughafenhalle stehen lassen, was prompt Bombenalarm ausgelöst hätte – als er schließlich zurückgekommen sei, wären die Beamten sofort wegen seines Bartes misstrauisch geworden. Der Osterhase schüttelte entnervt den Kopf. Von wegen Schnee abklopfen. Er wusste genau, dass der Weihnachtsmann immer gern seinen eigenen Schnee mit sich führte. Jedenfalls, ergänzte Rudolph, habe der Weihnachtsmann bedauerlicherweise auch noch einen Beamten attackiert, weil dieser ihn als „debilen Fettsack“ bezeichnet habe, weshalb er sich nun in Polizei-Gewahrsam befände.
„Und nun kommst du ins Spiel, Hase. Wir brauchen jemanden, der die restlichen Geschenke besorgt. Und zwar noch heute.“ Der Osterhase traute seinen langen Ohren nicht. „Was soll denn der Scheiß bitte? Könnt ihr nicht den blöden Sankt Martin fragen?“ Das Rentier verneinte. „Bedaure, das geht nicht. Der hat sich eine Erkältung zugezogen, weil er einem Penner die Hälfte seines Mantels gegeben hat.“ „Pfff. Was für ein Idiot.“ Rudolph räusperte sich und fuhr in etwas schärferem Tonfall fort. „Du wirst das machen, Hase, sonst wird das Konsequenzen haben. Ein Elf wird vorbeikommen und dir ein Weihnachtsmannkostüm, einen Sack und ein wenig Geld mitbringen. Und dann besorgst du das Zeug. Noch heute.“ Der Osterhase murrte noch immer. Was für Konsequenzen, dachte er sich. Er war ja schon Hartz-4-Empfänger, schließlich arbeitete er fast das ganze Jahr nicht und diese Eiergeschichte an Ostern konnte er noch unter Minijob laufen lassen.
Bevor er jedoch weiterhin seinen Unmut äußern konnte, hörte er bereits ein dumpfes Klopfen an der Tür. „Das ist der Elf“, ertönte es aus dem Hörer. „Du weißt, was du zu tun hast.“ Die Leitung klickte. Verärgert schlurfte der Osterhase in Richtung Eingang. Er durfte sich nicht immer so leicht breitschlagen lassen, dachte er und öffnete die Tür. Die kleine Gestalt, die draußen stand, jagte ihm sogleich einen Heidenschrecken ein. Bei Gott, was waren diese Elfen hässlich. Schnell riss er dem Weihnachtselfen Sack und Kostüm aus der Hand und schlug die Tür zu. Widerlich, entfuhr es ihm. Er wusste, dass der Weihnachtsmann diese ekelhaften Kreaturen ohnehin nur beschäftigte, weil sie für weniger als den tariflichen Mindestlohn arbeiteten und mittags lediglich rohes Fleisch in der Kantine verlangten. Der Fettwanst drückt die Kosten, wo er kann, dachte sich der Hase.
Skeptisch betrachtete er die Lieferung. Rudolph war geistesgegenwärtig gewesen und hatte einen Fatsuit beigelegt, um „die Illusion aufrecht zu erhalten“, wie eine beigelegte Notiz darlegte. Der Osterhase griff nach dem Kostüm und stolperte zurück ins Badezimmer. Der säuerliche Geruch von Erbrochenem hing in der Luft, was unmittelbar weitere Übelkeit in ihm hervorrief. Sein Schädel hämmerte. Nur mit größter Willensanstrengung gelang es ihm, den Fatsuit umzuschnallen und das rote Kostüm überzustülpen. Der Bart kratzte unangenehm und durch seine langen Ohren stand die Mütze grotesk nach oben, so dass lediglich der weiße Bommel etwas zur Seite kippte. Ich sehe lächerlich aus, dachte er. Der Osterhase strich mit seiner Pfote über den sündhaft teuren Kragen aus Nerzpelz. Der Weihnachtsmann hatte deswegen schon öfter Probleme mit der PETA gehabt und sich darüber beklagt, dass die Aktivisten ständig seine Nerzfarmen stürmen würden und die Tiere freiließen – nur an die Episode, als PETA-Mitglieder nackt vor seinem Domizil am Nordpol demonstrierten, erinnerte sich der Dicke gerne. Er glaube, dass Klinikum hätte noch nie so viele schwarze Gliedmaßen amputieren müssen, pflegte er dann immer zu sagen und lachte dreckig dabei.
Nun in voller Montur, den leeren Sack auf dem Rücken und ein Bündel Geldscheine in der Hand, stapfte der Osterhase aus seinem Bau. Auf einer Liste hatte Rudolph die zu beschaffenden Dinge notiert – darunter war „keine Sorge, in den Sack passt alles hinein, egal wie viel du hinein tust, du könntest sogar einen Elefanten hineinstecken.“ gekritzelt. Pfff, dachte der Hase. Diese Idee hatte der bärtige Fettsack wohl bei Harry Potter geklaut. Der Osterhase bemerkte, dass der widerliche Elf einen klapprigen Schlitten dagelassen hatte, vor den einige abgemagerte Rentiere gespannt waren, die scheinbar unzufrieden blökten und einigen Lärm veranstalteten. Seit Rudolph sein BWL-Studium abgeschlossen hat, treibt er es mit den Einsparungen entschieden zu weit, dachte der Hase. Er stieg ächzend auf den Schlitten und zog die Zügel stramm, woraufhin sich das Gefährt wild schaukelnd in die Luft erhob. Der Osterhase hatte sich immer gefragt, wie zum Teufel das eigentlich möglich war, aber bevor er weiter darüber nachsinnen konnte, wurde ihm der schlingernden Fahrt wegen wieder schlecht. Mühsam beugte er sich über den Schlitten und übergab sich erneut. Womöglich würde das Erbrochene gefroren sein, bevor es unten ankommt, dachte er. Sicherlich würde er aus der Zeitung erfahren, falls jemand davon erschlagen werden sollte.
Während er den ungestümen Schlitten lenkte, betrachtete er die Geschenkeliste: Neben den obligatorischen Socken, schlechten Krimis mit den immer gleichen herzerwärmenden Titeln („Schändung“, „Vergewaltigung“, „Blut“), sentimentalem Deko-Kitsch und der Oliver Kahn-Biographie für die Allgemeinheit waren noch einige zusätzliche Punkte aufgeführt. „Drei-Wetter-Taft für den Karl-Theodor, eine Kiste Mövenpick-Eis für den Guido und eine teflonbeschichtete Pfanne für die Angela“ stand dort vermerkt. Pfff, dachte der Osterhase. Erst einmal wollte er etwas für sich selbst besorgen, schließlich sollte sich dieser ganze Zirkus auch lohnen.
Er flog das nächste Parkhaus an und stellte seinen Schlitten auf einem freien Frauenparkplatz ab. Die Rentiere blökten irritiert, die Abgase in dem Gebäude schienen sie etwas zu benebeln, aber der Osterhase war erfreut, dass die Tiere vorerst ruhig gestellt waren. Er kettete sie an den nächsten Stützpfeiler und machte sich auf ins Freie, um den nahegelegenen Saturn aufzusuchen. Vor dem Geschäft waren mehrere Stände aufgestellt, die massenhaft von Menschen umsäumt wurden. Auf den Grills der Buden schwammen knorpelige Bratwürste in ranzig aussehendem Fett, ein stechender Geruch erfüllte die Luft – der Alkoholdunst von Glühwein, in Zucker und Zimt ersäufter Billigfusel, waberte umher und vermischte sich mit den Schwaden künstlicher Weihnachtsduftöle. „Last Christmas“ von Wham! erschallte aus blechernen Lautsprechern.
Der Hase konnte seinen Würgreflex nur mit Mühe unterdrücken, gebückt, die Pfote auf den Mund gepresst, bahnte er sich einen Weg durch die Menschenmenge, rempelte einige Leute an, die daraufhin heißen Glühwein über ihre Finger schütteten und glaubte für einen Moment ernsthaft, ersticken zu müssen. Bei Gott, er hasste Weihnachten! Diese ganzen abgeholzten Tannen, die überall herumstanden; die bunten Blinklichter, bei denen epileptische Anfälle vorprogrammiert waren; die grauenhaft verkitschten Engelchen, Christkindelchen und Sternchen, die dämlichen Lieder („Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum“ – Was sollte das denn?) noch dazu die steinharten Weihnachtsplätzchen, überhaupt die ganze Fresserei – und natürlich die Geschenke: Das panische Suchen nach irgendwelchem unnützen Mist, der ohnehin möglichst bald wieder klammheimlich entsorgt wird („Oh, ähem…Danke, Schatz. Das ist aber eine…schöne Kette“). Nein, Weihnachten war nichts für den Hasen (Ostern allerdings auch nicht, auf die Sinnhaftigkeit dieser ganzen Eiersache wollte er gar nicht erst eingehen), aber immerhin konnte er sich vom Geld des Weihnachtsmannes ein paar eigene Sachen kaufen.
Er fand, dass er sich das verdient hatte – der Weihnachtsmann lebte ja auch nicht gerade auf kleinem Fuß. Allein seine jährlichen Fettabsaugungen verschlangen Unsummen. Die Zustände im Geschäft, das er soeben betreten hatte, besserten die Laune des Hasen indes nicht. Menschen, deren Augen gierig glänzten, versammelten sich um bis an die Decke gestapelten Elektroschrott, schubsten sich gegenseitig beim Ergattern reduzierter Ramschware, die in Gitterkörben ausgestellt war und glotzten mit glasigem Blick in die zahlreichen Flachbildschirme, auf denen die grenzdebilen Vertreter der deutschen Fernsehlandschaft belanglosen Schwachsinn austauschten – aber das schien die Leute nicht zu stören, sie ergötzten sich stattdessen geifernd am scharfen High-Definition-Bild. Von einem der Bildschirme meinte der Hase Marlon Brando alias Colonel Kurtz „Das Grauen, das Grauen“ röcheln zu hören. Der Mann hat Recht, dachte der Hase. Das Herz der Finsternis sind diese Elektromärkte an Weihnachten allemal.
Als er sich gerade auf den Weg in die DVD-Abteilung machen wollte, spürte er ein leichtes Zupfen an seinem Kostüm. Vor ihm stand ein kleiner blonder Junge und blickte ihn mit großen Augen an. „Bist du der Weihnachtsmann?“ fragte er. Der Hase verzog das Gesicht, nickte dann aber zögerlich und versuchte mit tiefer, wohlklingender Stimme zu sprechen. „Äääh, hohoho, ja, das bin ich wohl.“ Das Kind beäugte ihn misstrauisch. „Warum riechst du so komisch, Weihnachtsmann?“ Darauf wusste der Hase beim besten Willen keine Antwort und zupfte nervös an seinem Bart. Kinder, dachte er. Diese Bratzen werden auch immer unverschämter. Er begann zu schwitzen. „Äääh…“ „Kannst du mir eine Playstation, das neue Call of Duty und diesen Ipod-Touch hier kaufen?“ Das Kind wedelte begeistert mit dem Ipod vor der Nase des Hasen herum. „Äääh… hohoho“, sagte dieser. Bevor er allerdings zu einer vernünftigen Antwort ansetzen konnte, war bereits die Mutter des Kleinen aufgetaucht und zog ihn mit sich, dem Hasen im Umdrehen einen feindseligen Blick zuwerfend. „Wie oft habe ich es dir gesagt? Mit Pennern spricht man nicht!“, zischte sie dem Kind ins Ohr. „Aber das war der Weihnachtsmann…“, hörte der Hase den Jungen noch rufen, bevor beide im Getöse verschwanden.
Er hatte langsam genug und durchstöberte noch schnell das DVD-Regal – er warf „Die Nacht der reitenden Leichen“, „Cannibal Holocaust“ und einige Pornofilme in den Sack, zückte Rudolphs Geldbündel und begab sich zur Kasse. Nachdem er eine geschlagene Stunde dort warten musste, stürmte er wild nach Luft schnappend nach draußen. Seine Blase drückte gewaltig. Schnell die Straße überquerend, spähte er nach links und nach rechts um zu überprüfen, ob ihn niemand beachtete – als er sich sicher war, nicht beobachtet zu werden, pisste er an einen der zahlreichen Weihnachtsbäume, die die Straße säumten und machte sich anschließend auf den Weg ins Parkhaus, um noch den restlichen Krempel zu besorgen.
Schon von weitem erkannte er den Polizeibeamten, der vor seiner Parklücke stand und einige Männer der Stadtverwaltung dirigierte, die mehrere Bündel bedeckt mit schwarzer Plastikfolie in einen Transporter warfen. Als der Beamte den Osterhasen entdeckte, kam er schnurgerade auf ihn zu. „Guten Tag, der Herr. Ist das Ihr Fahrzeug dort?“ Er verwies auf den rostigen Schlitten. Der Hase nickte. „Ihnen ist klar, dass es schwere Tierquälerei ist, Rentiere diesen Abgasen auszusetzen? Zeigen Sie bitte ihren Ausweis.“ Der Hase kramte in seiner Tasche und gab dem Beamten den Ausweis – dieser begutachtete ihn und blickte daraufhin den Hasen scharf an. „Das sind nicht Sie auf dem Foto. Ist das Ihr richtiger Ausweis?“ Der Osterhase druckste herum. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. „Ich muss Sie bitten, mich aufs Revier zu begleiten“, sagte der Polizist und verwies auf seinen Streifenwagen. Der Hase schluckte. So ein verdammter Mist. Wieso hatte er sich überhaupt diesen Fummel übergezogen, das ganze war ein absolutes Debakel.
Da kam ihm eine Idee – er griff in seine Hosentasche und zog den Rest des Geldbündels, dass Rudolph ihm hatte zukommen lassen, hervor und hielt es dem Beamten unter die Nase. Dieser betrachtete den Hasen skeptisch und lächelte dann. „Weil bald Weihnachten ist“, sagte er und griff nach dem Geld. „Sie dürfen gehen.“ Der Osterhase ließ sich nicht zweimal bitten und verschwand wieder nach draußen. Jetzt würde er wohl den Bus nehmen müssen. Hauptsache er kam bald nach Hause. Soll der Weihnachtsmann sich doch ins Knie ficken, dachte er. Und Rudolph, The Rednose Fucking Reindeer ebenfalls. Er brauchte jetzt erst mal ein Bier.
Manuel Weißhaar