Die in Erlangen geborene Schriftstellerin und Theaterregisseurin Christiane Neudecker gab am 20. November dem Café Lorleberg ihre Ehre, wo sie ihren Erzählband „Das siamesische Klavier“ vorstellte. Wer sich vorab informiert hatte, war auf einen schaurig-gruseligen Abend gespannt, schließlich verspricht der Untertitel „Unheimliche Geschichten“. Bis 20 Uhr füllte sich das Café Lorleberg mit vielen interessierten Zuhörern, unter ihnen Akteure von Schau ins blau, dem Organ des Interdisziplinären Zentrums für Literatur und Kultur der Gegenwart, welches die Lesung organisiert hatte. In sieben Geschichten schildert die Autorin verschiedene Formen des Unheimlichen aus verschiedenen Erzähl-Perspektiven.
Christiane Neudecker las Auszüge aus zwei Geschichten vor, unter anderem die Titelgeschichte, die programmatisch für den ganzen Band steht. „Das siamesische Klavier“ schildert eine unüberwindbare Unsicherheit angesichts der individuellen Wahrnehmung, welche die Grenze zwischen Realität und Phantasie nicht zu deuten vermag.
Die Erzählung „Dunkelkeime“ handelt von einer Identitätsumwandlung. Der männliche Ich-Erzähler zieht in die Wohnung seiner Freundin Christina, die ihn kürzlich verlassen hat. Die Erinnerung an sie schmerzt ihn, er kann ihre Abwesenheit kaum ertragen, überall ist ihr Geruch, überall sind Spuren von ihr zurückgeblieben. Eines Tages erhält er eine fehlgeleitete SMS von Christinas Freundin Sarah. Nach längerem Überlegen antwortet er – als Christina. Was anfangs noch ein Spiel, eine harmlose Maskerade war, wird im Laufe der Handlung zum bitteren Ernst. Der Verlassene beginnt das Leben seiner Ex-Freundin zu führen bis er ihre Identität vollständig übernimmt. Er übernimmt ihre Gewohnheiten, ihre Gesten. Er spürt den Verlust seiner eigenen Identität, die ihm entrinnt. „Vielleicht bewohne ich nicht Christinas Wohnung, vielleicht bewohnt sie mich“. Seine Erinnerungen verblassen, lösen sich auf. Zurück bleiben nur die Erinnerungen von Christina. Er sieht sein Gesicht im Spiegel und sieht – Christina. Verliert er den Verstand? Was ist Realität? Als er Sarah trifft, nachdem er ein Treffen mit ihr immer aufgeschoben hatte, wird ihm bewusst, dass er nicht träumt. Sarah erkennt ihn als Christina. Er ist Christina. Er ist zu Christina geworden.
Christiane Neudecker las ihre Geschichten sehr einfühlsam und ließ ihren Zuhörern Schauer über den Rücken jagen. Sie hielt dabei immer wieder inne, um die Handlungslinien zu erklären. Sie übersprang Passagen und verriet auch das Ende nicht – was üblicherweise Neugier auslöste.
Nach der Lesung stellte sich die Autorin den Fragen des Publikums. Wie sie ihre Ideen finde, wurde gefragt. Neudecker vergleicht ihre Ideenfindung mit einer Molekülkettung: Verschiedene Eindrücke verknüpfen sich zu einer Erzählung. Dass sich in allen Geschichten ein unheimliches Element befände, habe sie selbst erst später gemerkt. Ihren Geschichten liegen urmenschliche Fragen zugrunde: Wer bin ich? Wohin gehe ich? Wie grenze ich mich ab? „Niemanden trauen“ das sei der leitende Grundgedanke. „Das Unheimlichste ist der Mensch selbst“. Eine Aussage, der jeder ihrer Protagonisten zustimmen würde.
Christiane Neudecker offenbart sich als großer Fan von Daphne du Maurier, der Autorin von Hitchcocks „Die Vögel“ und von Marie Louise Kaschnitz. Mit diesen Einflüssen transportiert Christiane Neudecker schwarzromantische Traditionen ins moderne Jetzt.
Leider waren die örtlichen Rahmenbedingungen für eine Lesung dieser Art unpassend. Die Lesung war von Anfang bis Ende von störenden Geräuschen begleitet, die für ein Café nun mal typisch sind. Mit dem röhrenden Milchschäumer und dem Klappern von Geschirr im Hintergrund konnte sich nicht die Atmosphäre einstellen, die für diese Lesung wünschenswert gewesen wäre. Denn „unheimliche Geschichten“ erfordern absolute Stille.
Gleichzeitig ist eine Lesung in einem Café auch eine nette Sache, immerhin gibt es keine frontale Bühnendarstellung, der Ort ist gemütlich und es duftet nach Cappuccino.
Detaillierte Informationen zur Autorin und ihrem Werk sind unter http://www.schauinsblau.de/ zu finden.
Julia Heiserholt