Revolution, Wunder, Weltuntergang – und zwei Engel mittendrin. Mit Ahasver (1981) schickt Stefan Heym den Teufel selbst auf eine bizarre Reise vom ersten Schöpfungstag bis in die Mühlen der DDR-Bürokratie. Eine gelegentlich chaotische, oft lustige und immer politische Geschichte – mit einer zeitlosen Botschaft.
Die Welt ist noch keine Woche alt, als die Engel Lucifer und Ahasver aus dem Himmel verbanne und zu einem unsterblichen Leben auf der Erde verdonnert werden. Mit neuen Namen und geheimen Identitäten müssen sich die beiden erstmal an die Welt der Sterblichen gewöhnen. Und während sich Lucifer schnell in den irdischen Hierarchien zurechtfindet und die Zeitalter an der Seite der Mächtigen verlebt, versucht unser Protagonist Ahasver immer wieder Revolutionen unter den Menschen anzuzetteln. Irgendwie muss man das verlorene Paradies doch wieder herstellen können! Erst will er Jesus auf seine Seite ziehen, ein paar Jahrhunderte später mischt er dann bei Luthers Reformation mit. Die Lage spitzt sich zu, als Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich die Apokalypse vor der Tür steht.
Stephan Heym mutet seinem Leser einiges zu. Seine Geschichte entfaltet sich vom mythologischen Anfang bis zum abrupten Ende der Weltgeschichte in einer – typisch Achzigerjahre – atomaren Apokalypsefantasie. Dabei springt er von Kapitel zu Kapitel munter zwischen den Zeitebenen hin- und her. Mal zeichnet Ahasver sein ganz eigenes Bild von biblischen Geschichten und Gestalten; dann folgen wir plötzlich einem jungen Theologen, der in den Wirren der Reformation an die falschen Freunde gerät. Schließlich gibt es noch einen Briefwechsel zwischen einem Beamten des – tatsächlich historischen – Instituts für wissenschaftlichen Atheismus der DDR und einem israelischen Wissenschaftler namens Jochanaan Leuchtentrager (Lucifer eingedeutscht – der Teufel ist ein Egoist, aber nicht besonders kreativ).
Dabei gibt Heym jede Episode im passenden Sprachstil wider – von blumig-mythologischer Bildsprache bis zum nüchternsten Bürokraten-Deutsch. Doch nicht nur die beiden Engel begegnen uns in jeder Epoche, auch die Probleme bleiben dieselben: Soziale Ungerechtigkeit wohin man schaut; eine herrschende Klasse, die alles besser weiß und eine breite Masse, die sich zu viel gefallen lässt. Und mit jedem Umsturz, den Ahasver anzettelt, geht die Geschichte wieder von vorne los. – Eine revolutionäre Botschaft für einen DDR-Autor. Trotz aller politischen Tiefe gelingt es Heym dabei seine Geschichte gekonnt auszubalancieren. Nebenbei blitzt immer wieder sein typischer Humor auf, zum Beispiel wenn Jesus bei seiner Wiederkunft im Jerusalem der Achziger als verwirrter Obdachloser ignoriert wird.
Schließlich traut der Autor dem Leser ein dramatisches, aber letztlich konsequentes Ende zu: Nachdem er seine Versuche auf der Erde aufgegeben hat, gelingt es Ahasver eine Revolution der himmlischen Heerscharen anzuzetteln und die Welt an den Rand des Untergangs zu manövrieren. Heym bedient sich hier großzügig bei der christlichen Mythenwelt, findet aber immer wieder eigene Interpretationen der klassischen Motive. So ist unser Titelheld Ahasver in der ursprünglichen Legende nur ein Mensch, der von Jesus verflucht unsterblich auf die Endzeit warten muss. Es schadet also nicht sich ein bisschen mit biblischer Mythologie und Bildsprache auszukennen, wenn man alle Anspielungen verstehen will, Voraussetzung ist das aber nicht. Es reicht zu wissen, dass Engel nicht immer die Guten sind, Teufel nicht immer die Bösen – und Menschen immer irgendwo dazwischen.
Simon Lukas
Stefan Heyms „Ahasver“ ist als Taschenbuch im btb Verlag erschienen (ISBN: 344273357X).
„Als nun Jesus vor der Werkstatt des Schusters vorbei zum Tode geführt wird, ereignet sich gerade dort die bekannte Szene, daß der Leidende unter der Last des Kreuzes erliegt, und Simon von Cyrene dasselbe weiter zu tragen gezwungen wird. Hier tritt Ahasverus hervor, nach hartverständiger Menschen Art, die, wenn sie jemand durch eigne Schuld unglücklich sehn, kein Mitleid fühlen, ja vielmehr, durch unzeitige Gerechtigkeit gedrungen, das Übel durch Vorwürfe vermehren; er tritt heraus und wiederholt alle früheren Warnungen, die er in heftige Beschuldigungen verwandelt, wozu ihn seine Neigung für den Leidenden zu berechtigen scheint. Dieser antwortet nicht, aber im Augenblicke bedeckt die liebende Veronika des Heilands Gesicht mit dem Tuche, und da sie es wegnimmt, und in die Höhe hält, erblickt Ahasverus darauf das Antlitz des Herrn, aber keineswegs des in Gegenwart Leidenden, sondern eines herrlich Verklärten und himmlisches Leben Ausstrahlenden. Geblendet von dieser Erscheinung wendet er die Augen weg, und vernimmt die Worte: »Du wandelst auf Erden, bis du mich in dieser Gestalt wieder erblickst.«“