Während Spider-Man, Scarlett Witch und Vision ziemlich umstandslos ins Marvel-Universum gesetzt wurden, bekommt Doctor Strange mal wieder eine echte Originstory spendiert. Regisseur Scott Derrickson wirft den Zuschauer in eindrucksvoll animierte magische Welten – und hat nebenbei eine wirklich gute Geschichte zu erzählen.
Dr. Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) zählt zu den Top-Chirurgen der Welt. Wenn er nicht gerade im OP Leben rettet oder Auszeichnungen entgegen nimmt, düst er mit seinem schicken Sportwagen durch New York. Bei einem besonders riskanten Fahrmanöver kommt sein Wagen von der Straße ab und der Doktor findet sich selbst als Patient in der Notaufnahme wieder. Trotz mehrerer Operationen in den mehrfach gebrochenen Händen ist klar, dass Strange nie mehr operieren können wird. Auf der verzweifelten Suche nach einer Heilung reist er bis nach Nepal, wo ihn die geheimnisvolle „Älteste“ (Tilda Swinton) in uraltes magisches Wissen einweiht. Die Zeit drängt, denn einer ihrer ehemaligen Schüler (Mads Mikkelsen) steht kurz davor, einen mächtigen Dämon auf die Erde loszulassen.
Medizinische Magie, magische Medizin
Regisseur Scott Derrickson stand vor der nicht ganz einfachen Aufgabe der in sich geschlossenen Marvel-Welt eine magische Sphäre hinzuzufügen. Damit finden Zauberei und Wissenschaft bei ihm zu einer cleveren und überraschend plausiblen Koexistenz. Die Älteste lehrt neben Chakren und Akupunktur auch nüchterne Anatomie und wenn Dr. Strange von einem magischen Dolch durchbohrt wurde, vertraut er sich den Händen seiner Chirurgenfreunde an.
Bei den übernatürlichen Fähigkeiten seiner Figuren beschränkt sich Derrickson glücklicherweise auf eine Handvoll Zauber, die wir zusammen mit Strange kennen lernen. Die Magie wirkt damit nie beliebig und Kämpfe bleiben übersichtlich – selbst wenn sie in einer Spiegeldimension stattfinden, in der Naturgesetze nach Lust und Laune gebrochen werden können. Hier kippen die Zauberer Wolkenkratzer ineinander, erwecken antike Architektur zum Leben und reißen ganze Straßenzüge in Stücke. Der Film zündet dabei ein Feuerwerk an guten Ideen und opulenten Effekten, für die sich das 3D-Ticket ausnahmsweise wirklich lohnt.
Marvel made for China
Am schwächsten ist Doctor Strange tatsächlich, wenn er zu sehr der bewährten Marvel-Formel folgt. Auch wenn das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel steht legt das Drehbuch dem Doktor immer wieder die typisch witzigen Oneliner in den Mund und untergräbt damit ein Stück weit Cumberbatchs ernsthafte Darstellung. Nebenbei wird er noch in eine unpassende Liebesgeschichte verheddert, die die eigentlich interessante Rachel McAdams zur generischen Geliebten herabstuft. Dagegen erfüllt sich ein anderes Marvel-Klischee nicht: Der Film wartet tatsächlich mit einem guten Antagonisten auf. Mads Mikkelsen‘ Kaecilius ist ein psychologisch interessantes Gegenbild zu Strange, dessen Motivation weit über die gewöhnlichen Weltherrschaftspläne hinausgeht.
Über solchen tiefen Charakterstudien – und den fantastischen Schauwerten – ist die größte Kontroverse um Doctor Strange im Kino schnell vergessen: Tilda Swifton übernahm die Rolle des im Original tibetischen Magiermeisters, um politische Kontroversen im wichtigen Zuschauerland China zu vermeiden. Auch an anderen Stellen wird schnell klar wie gezielt der asiatische Markt ins Auge genommen wurde – so findet die Endschlacht in den Straßen von Hongkong statt. Im Gegensatz zu anderen Anbiederungsversuchen der letzten Jahre funktioniert es hier aber gut, als mächtiger Zauberer muss sich Strange schließlich um die ganze Welt kümmern. Und mit der obligatorischen Szene nach dem Abspann wird klar, dass der Doktor auch in seiner Heimatstadt New York bald wieder alle Hände voll zu tun haben wird.
Simon Lukas
Doctor Strange läuft aktuell im Cinecitta‘ in Nürnberg.