»Der Dachdecker von Birkenau« war in vielen Ländern zu Gast – auf bereits über 50 Veranstaltungen in der ganzen Welt zeigte der Filmemacher Johannes Kuhn seinen Dokumentarfilm über den Holocaustüberlebenden Mordechai Chiechanower. Am 06. Juli 2016 machte der Regisseur im Jugendzentrum Erlangen, besser bekannt als JUZ, Halt und stand dem Publikum Rede und Antwort.
Mordechai Chiechanower wurde im Jahr 1924 als Sohn einer jüdischen Familie geboren und wuchs in der polnischen Kleinstadt Maków Mazowiecki auf. Sein Elternhaus war musikalisch und betrieb eine kleine Eisdiele – seine frühen Lebensjahre verliefen glücklich.
Gemeinsam mit einem Filmteam wandelt der mittlerweile 89-Jährige heute erneut auf den Straßen seiner Kindheit. Vor einem halbverfallenen Haus bleibt er stehen und deutet auf die Fenster. „Hier im ersten Stockwerk hat früher der Rabbiner gelebt“. Früher, das war bevor Millionen Menschen, darunter auch Mordechais Mutter und die beiden Schwestern, dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen. „Ich habe die Vergangenheit nie vergessen“, erzählt Mordechai. Der Zeitzeuge hat es sich zur Aufgabe gemacht, von den Schrecken des Holocaust zu berichten – in einem sehr persönlichen filmischen Testament.
Im Jahr 1942 beginnt für ihn die lange Reise durch verschiedene Arbeits- und Konzentrationslager des Naziregimes. Die Ankunft der Familie Chiechanower im Vernichtungslager Ausschwitz, der ersten Station, überleben nur Mordechai und sein Vater. Mordechais gesamte Identität beschränkt sich künftig auf eine fünfstellige Nummer. Langsam krempelt er den Ärmel hoch. »81 4 34« steht noch heute auf seinem Arm geschrieben. In Ausschwitz erhält er eine Tätigkeit im Dachdeckerkommando. Für den jungen Mann eine fast glückliche Fügung, denn die Arbeiter erhalten zusätzliche Essensrationen.
Trotz all dem Elend, hat Mordechai auch die guten Erlebnisse fest in seiner Erinnerung eingeschlossen. Einer der wenigen freudigen Momente ereignet sich im Sommer 1944. Es ist ein Augenblick der Menschlichkeit, als er die Erlaubnis erhält, den totgeglaubten Vater zu sehen. „Wir haben uns minutenlang geküsst und im Arm gehalten vor Glück“. Als Mordechai davon erzählt, ist zu spüren, dass ihn das Geschehene trotz der vielen vergangenen Jahre sichtbar bewegt.
Die Reise führt das Filmteam weiter in die nächsten Etappen seiner Jugend. Im KZ Bergen-Belsen begegnen sie bei einem Festakt zugunsten der Opfer weiteren Holocaust-Überlebenden. Gemeinsam singen die ehemaligen Häftlinge jiddische Lieder und unterhalten sich über die lang vergangenen Erlebnisse. Die letzte Station ist Feldafing, ein Auffanglager für die sogenannten „Displaced Persons“. Mordechai trifft hier im Jahr 1945 erneut auf seinen Vater – ein völlig unerwartetes Wiedersehen und das Ende einer nie vergessenen Reise.
Die Gräueltaten des Nationalsozialismus sind die wohl schwärzesten Kapitel der deutschen Geschichte und der Ton im Umgang mit den Geschehnissen schnell belehrend. Dies ist in dem Dokumentationsfilm »Der Dachdecker von Birkenau“ nicht der Fall. Im Gegenteil eröffnet der Regisseur Johannes Kuhn dem knapp 90-jährigen Mordechai Chiechanower vollen Raum für seine Erzählungen. Mordechais Worte sind ernst, berührend und oft auch humorvoll – niemals jedoch anklagend. Ein beeindruckendes filmisches Zeugnis.
Anja Groß