Reiche Israelis, arme Palästinenser und zwei vertauschte Babys – Was wie die Steilvorlage für eine bizarre Satire klingt, entpuppt sich in Der Sohn der Anderen als erfreulich unaufgeregte und ernsthafte Suche nach der eigenen Identität in einem geteilten Land. Regisseurin Lorraine Lévy gelingt ein Drama nicht ohne Klischees, aber mit einer wichtigen Botschaft.
Der siebzehnjährige Israeli Joseph (Jules Sitruk) bereitet sich auf seinen Militärdienst vor und träumt nebenbei von einer Musikkarriere in Tel Aviv. Der Palästinenser Yacine (Mehdi Dehbi) ist gerade aus einem Internat in Frankreich zurückgekehrt und macht sich vor Beginn seines Medizinstudiums auf die Suche nach einem Nebenjob. Als bei einer Routineuntersuchung herauskommt, dass die beiden bei der Geburt vertauscht und auf der jeweils falschen Seite der Grenze aufgewachsen sind, bricht für die Teenager eine Welt zusammen. Auch ihre Familien müssen sich erst daran gewöhnen „den Feind“ im Haus zu haben.
Religion als Rassenfrage
Regisseurin Lorraine Lévy umgeht den Vorwurf der Parteilichkeit, indem sie die Geschichten beider Jungen gleichberechtigt nebeneinander erzählt und so auf eine eindeutige Identifikationsfigur verzichtet. Auch wenn Josephs Wandlung am Ende die spannendere ist, bleibt auch Yacine nicht lange das notwendige andere Baby, sondern entwickelt sich schnell zum eigenen Charakter. Als außenstehende Europäerin verzichtet Lévy dankenswerterweise auf eine zu grobe Vereinfachung der politischen Situation und lässt im Konfliktfall beide Seiten zu Wort kommen. Dass ihr Drama auch auf der menschlichen Ebene funktioniert, ist in erster Linie der schauspielerischen Leistung der beiden Jungdarsteller zu verdanken. Während Yacine, der westlich orientierte Medizinstudent, nach einem kurzen Schockmoment das Beste aus der neuen Situation macht, stürzt Joseph in eine ausgewachsene Identitätskrise.
Besonders sein neuer religiöser Status macht dem gläubigen Teenager zu schaffen. Gnadenlos rechnet die Jüdin Lévy hier mit dem unverhohlenen Rassendenken in orthodoxen Kreisen ab: Weil er jetzt eine arabische Mutter hat, verliert Joseph von einem Tag auf den anderen seine Religion. Jude sein ist eben keine Frage des Glaubens, wie ihm sein Rabbi trocken mitteilt. „Es ist ein Zustand.“ Und zwar ein angeborener. Das sieht auch Yacines älterer Bruder so – und will nichts mehr mit seinem über Nacht zum Juden gewordenen Bruder zu tun haben. Diese kurzen Szenen bringen den Irrwitz von religiösem Fanatismus so realistisch und treffend auf den Punkt, wie man es lange nicht gesehen hat.
Es bleibt in der Familie
Gelegentlich driften die Charaktere dabei leider ins Klischee ab. Josephs Vater ist ein verschlossener Offizier, der lieber den Wagen wäscht als mit seinem Sohn zu sprechen, seine Mutter diskutiert beim Abendessen über psychische Probleme, während auf der anderen Seite der Mauer ausgiebig gesungen und auf der Straße getanzt wird. Zum Glück bleibt es nicht lange bei diesen starren Rollen. In den 100 Minuten Spielzeit bekommt jedes Familienmitglied – abgesehen von den völlig überflüssigen jüngeren Schwestern – die Möglichkeit zur Entwicklung. Lévy nimmt sich die Zeit, die emotionalen Nuancen glaubhaft darzustellen.
Interessanterweise haben die beiden Protagonisten selbst keinerlei Annäherungsprobleme. Durch Schicksal und Drehbuch zusammengeschweißt, entwickelt sich zwischen den beiden so verschiedenen Teenagern eine sonderbare Freundschaft, die zum Kernelement des Films wird. Nachdem sie am eigenen Leib die Beliebigkeit der Einteilung in Rassen und Klassen erfahren haben, kommen die beiden in einer Schlüsselszene auf Ismael und Isaak zu sprechen. Die Urväter ihrer Religionen waren Brüder – letztlich bleibt damit alles in der Familie. Diese zutiefst humanistische Botschaft ist größer als das persönliche Drama der beiden Teenager und größer als der Nahostkonflikt. Lévy wollte nach eigenen Angaben keinen politischen Film machen. Das ist zum Glück gründlich schiefgegangen.
Simon Lukas
E-Werk-Kino
Sonntag, 25. Oktober, bis Mittwoch, 28. Oktober (OmU)
Donnerstag, 29. Oktober (deutsche Fassung)