Flip-Flop heißt eine kreative Technik aus der Sozialwissenschaft. Wer eine eigene Theorie entwickeln will und gerade auf dem Schlauch steht, kann damit auf völlig neue Einfälle kommen. Denn man stellt sich das komplette Gegenteil von etwas vor, vergleicht Extrempole miteinander. Extrempole wie Fußball und Theater.
Es sind zwei komplett verschiedene Bereiche: Sport und Kultur. Was haben Fußball und Theater auf den ersten Blick gemeinsam? Nichts. Auf den zweiten Blick? Beides sind Veranstaltungen. In der Mathematik wäre das der kleinste gemeinsame Nenner. Es gibt aber bestimmt noch mehr gemeinsame Nenner, wenn man genauer hinsieht.
Der Ort
Eine Veranstaltung findet im großen Stadion statt, die andere im kleinen Theatersaal (selbst ein „Großer Saal“ ist im Vergleich mickrig). Ein Spielfeld ist laut DFB-Richtlinien mindestens 90 Meter lang und 45 Meter breit. Eine Bühne? Wenn man zwischen beide Zahlen jeweils ein Komma setzt, ergibt das ungefähr eine realistische Bühnengröße. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: Das Spielfeld ist die Bühne des Fußballs und die Bühne das Spielfeld des Theaters. Beides ist zentral, im Blickpunkt, der Mittelpunkt.
Das Publikum
Ins Stadion gehen Fans jeden Alters, etwas mehr Männer als Frauen. Etwas mehr Frauen als Männer trifft man im Theater an, die ältere Generation ist eindeutig in der Überzahl. (Alle Angaben sind rein subjektive Beobachtungen. Ich habe keine Umfragen durchgeführt.) Auffällig ist auch die unterschiedliche Kleidung. Trikots, Fanschals und wehende Flaggen einerseits, Anzug, Blazer und funkelnder Schmuck andererseits. Bier versus Wein.
Und richtig spannend: Das Verhalten. Johlende, springende, singende Vollblut-Fans stehen klatschenden, Knigge-treuen, gesitteten Theatergängern gegenüber. Die einen geben ihre Jacken an der Garderobe ab, die anderen werden am Eingang nach Waffen und Bengalos durchsucht. Es zeigt sich, dass Stadionbesucher für gefährlicher gehalten werden – sie dürfen nicht mal Glasflaschen mitnehmen. Im Theater müssen nur die Handys ausgeschaltet werden (damit ist für Attentäter ein Kommunikationskanal ausgeschaltet, den sie seit Edward Snowdens Enthüllungen ohnehin nicht mehr verwenden).
Die (Schau)Spieler
Vorneweg eine Gemeinsamkeit zwischen Schauspielern und Fußballspielern: Sie spielen. Sie besorgen kein Essen, sie versorgen keine Kranken – kurz: Sie haben keine überlebenswichtige Funktion für die Menschheit. Aber sie unterhalten Menschen, schaffen Gemeinschaft und Glücksmomente. Sie bereichern das Leben (keine Sorge, für diese Komplimente werde ich weder vom DFB noch von irgendeinem Theater bezahlt, wobei letzteres sich das sowieso nicht leisten könnte). Ab jetzt verliere ich kein Wort mehr über Bezahlung. Das wäre ungerecht für die Schauspieler. Dafür verliere ich auch kein Wort über Bildung – das wäre ungerecht für die Fußballer (und vielleicht ist es auch ein Vorurteil).
Jetzt aber zu dem offensichtlichen Unterschied: Werden Schlägereien nur gespielt oder beißt tatsächlich ein Spieler seinem Gegner in die Schulter? Der Unterschied relativiert sich, wenn man die Schauspielleistungen mancher Fußballer bedenkt, die eine Schwalbe vortäuschen. Ein weiterer Unterschied: Im Theater kommt es vor, dass Zuschauer plötzlich selbst auf der Bühne stehen. Es wurde aber noch nie ein Spieler gegen einen Zuschauer ausgewechselt. Andererseits rennen manchmal Flitzer über das Feld. Das kommt im Theater weniger vor. Wenn, dann sorgen die Schauspieler selbst für nackte Haut – ihnen ist nicht verboten, das Trikot auszuziehen.
Das Team hinter dem Team
Was für die Schauspieler der Regisseur ist, ist für die Fußballspieler der Trainer. Im entscheidenden Moment haben beide wenig Einfluss und müssen ruhig sein (auch Jürgen Klopp). Regisseure haben noch den Vorteil, dass sie nicht auf schwer einschätzbare Gegner reagieren müssen. Trainer können immerhin durch Auswechseln, Zurufen und Reden in der Halbzeit Einfluss nehmen. Gemeinsam ist dem Fußballteam und der Theatergruppe das große Team aus Planern, Technikern und anderen wichtigen Helfern im Hintergrund. Wie wichtig die Beleuchtung ist, merkt man erst, wenn sie nicht funktioniert. Im Stadion und im Theater.
Einen Schiedsrichter gibt es im Theater nicht. Eine Souffleuse gibt es im Fußball nicht (mit der Ausnahme, dass Andreas Köpke bei der WM 2006 Jens Lehmann im entscheidenden Moment einen Spickzettel zugesteckt hat). Wenn es um Fußball geht, darf die FIFA nicht vergessen werden. In ihrer Erscheinungsweise ist sie so einzigartig (korrupt, geldgierig, kriminell), dass es ungerecht wäre, irgendein Theater-Organ damit zu vergleichen.
Vorsichtshalber entschuldige ich mich bei allen Sozialwissenschaftlern, die sich gerade die Haare gerauft haben. Ich übernehme keine Gewähr dafür, dass ich die Flip-Flop-Technik hier im wissenschaftlich korrekten Sinn angewendet habe (was ich garantiert nicht getan habe).
Patricia Achter